Der Puls von Jandur
holprig sein.«
Sie schnalzte mit der Zunge und flüsterte etwas Unverständliches. Ihr Schlangenläufer spreizte die Flügel und stieg ruckelnd auf.
Matteos Echse gab einen Zischlaut von sich, machte einen Satz und startete mit ungeschickten Flügelschlägen. Sie sackte ab, fing sich, flatterte weiter. Dabei drehte sie sich um die eigene Achse und schraubte sich so immer höher. Matteo wurde von dem Auf und Ab ganz schlecht und auch die Angst abzustürzen verursachte ein lästiges Ziehen in seinem Magen. Er hasste Berg- und Talfahrten. Boomerang oder Discovery oder wie sie alle hießen. Da, wo andere Kinder im Freizeitpark vor Vergnügen kreischten, wurde er schon vom bloßen Zusehen grün im Gesicht.
Endlich waren sie über den Baumkronen. Der Schlangenläufer entfaltete seine Schwingen zur Gänze und das Ruckeln ging in weiches Gleiten über. Matteo atmete auf. Er lockerte seine verkrampften Hände und warf einen Blick nach unten.
Der Wald erstreckte sich wie ein grünes, buckeliges Meer gegen Osten, wo die Morgensonne gerade rotgoldenes Feuer an den Himmel malte und die Wolkenfetzen zum Glühen brachte.
Linker Hand, von den Bäumen eingekesselt, lag die Festung Shinjossa, ein imposantes Bauwerk, größer noch als eine mittelalterliche Burg. Massive Mauern umschlossen zu vier Seiten einen gepflasterten Hof, an den Ecken überragten Türme das Hauptgebäude. Schießscharten und Wehrgänge zeigten, dass man sich zu verteidigen wusste. Womit wohl? Pfeil und Bogen? Armbrust? Da der Lord mit einem Schwert bewaffnet gewesen war, schloss Matteo Schusswaffen wie Pistole oder Gewehr aus. Aber vielleicht gab es ja bereits Kanonen?
»Matteo!« Lith deutete nach unten. An der Waldgrenze bewegte sich eine dunkelrote Schlange vorwärts, Staub wallte hinter ihr in dichten Wolken auf. Matteo verengte die Augen. Was war das? Lith ließ ihren Schlangenläufer zurückfallen, bis sie auf gleicher Höhe waren.
»Barcas!«, rief sie. »Lord Nadors Truppen!«
»Was sind Barcas?«, schrie er zurück.
Sie zog die Nase kraus. »Reit- und Kampftiere! Laufen sehr schnell!«
Matteo nickte. Jetzt, wo sie es sagte, konnte er helle Punkte auf den Barcas ausnehmen. Soldaten.
»Verfolgen sie uns?«, fragte er.
»Anzunehmen!«
Lith setzte sich wieder an die Spitze, die Schlangenläufer legten an Geschwindigkeit zu. Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis die Truppen ein Stück weit hinter ihnen zurückblieben.
Die Sonne war gestiegen, in ihrem flüssigen Gold funkelten die Schuppen der Schlangenläufer in allen Regenbogenfarben. Die Flügel hingegen wirkten wie aus dunkelgrauem Samt. Matteo schätzte ihre Spannweite auf etwa sechs Meter. Vor ihm saß Lith völlig unbeweglich auf ihrem Reittier, als wäre sie mit dessen Leib verwachsen. Eine Göttin der Lüfte.
Allmählich trocknete seine verschwitzte Kleidung. Sie überflogen Wiesen, in die der Wind wirre Muster zeichnete, und goldgelbe Felder, kleine Teiche und Bäche und immer wieder Dörfer, deren rotgedeckte Häuschen wie Plastikspielzeug aus der Playmobil-Welt aussahen. Nirgendwo konnte Matteo Menschen oder Tiere entdecken. Kein Rauch stieg aus den Schornsteinen auf, keine Pferdekarren rollten über die schmalen Straßen, kein Bauer erntete das Getreide. Bis auf ihre lästigen Anhängsel wirkte das Land wie von allen Lebewesen verlassen. Ein Themenpark nach Geschäftsschluss.
Er hätte den Flug genießen können, wären da nicht die seltsamen Umstände gewesen, die das Märchenbild zu einer Groteske verzerrten. Und nun, da er Zeit hatte, seinen Gedanken nachzuhängen, hämmerten die Fragen wieder in seinem Kopf.
Würden sie die Soldaten abhängen? Unbehelligt die Kaiserin erreichen? Wie würde sie reagieren, wenn sie dort aufkreuzten? Und würde sie ihn ohne weiteres ihre Weltenspirale benutzen lassen? Konnte er damit überhaupt nach Hause gelangen? Womöglich würde sein jetziger Körper dabei erneut verlorengehen. Das wäre sogar die beste Lösung, dachte er bitter, denn wie soll ich den Eltern je den grünen Fleck auf meinem Bauch erklären?
Es gab ihm einen Stich, als er an sie dachte. Bestimmt hatten sie sein Verschwinden schon der Polizei gemeldet. Andrea würde nichts unversucht lassen, um ihn zu finden. Und Brizio …
Plötzlich dämmerte ihm, an wen ihn der Lord erinnerte. An seinen Vater. An den anderen, stärkeren Mann, der er einst gewesen war. An jene Seite seiner Persönlichkeit, die er in Verzweiflung und Alkohol ertränkt hatte. Matteo hatte nicht damit
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