Der Puls von Jandur
Matteo hielt sich die Wange. »Wofür war die jetzt?«
»Ich begreife zwar nicht«, sagte sie ruhig, »was deine miese Laune mit meinen Ohren zu tun hat, aber ich gehe mal davon aus, dass das eben als Beleidigung gedacht war.«
Er schwieg und sie schlug noch einmal zu, diesmal mit der Linken.
»Verdammt!« Matteo fiel ihr in den Arm und erwischte sie am Handgelenk, aber sie entwand sich seinem Griff. Ungerührt wich sie vor ihm zurück.
»Gehen wir, Matteo. In den Bergen wird es schnell dunkel und wir sollten besser vorher im Dorf ankommen. Oben gibt es Wasser und Essen.« Sie marschierte wieder los. »Danach können wir reden oder schlafen, uns beschimpfen oder schlagen, ganz wie du willst.«
Zähneknirschend lief er ihr nach. Wieder hatte sie ihn mühelos um den kleinen Finger gewickelt.
Der Anstieg zu diesem Dorf, oder was immer ihn dort oben erwarten würde, war anstrengend. Ein steiniger Pfad wand sich in Serpentinen die Felswand hinauf. Die Abendsonne bewachte ihre Wanderung, je nach Kurve streichelte sie Matteos Gesicht oder wärmte seinen Rücken.
Er stolperte benommen vor sich hin – ein Schlafwandler am Rande des Abgrunds. Dieser Körper mochte über mehr Kraftreserven verfügen als sein eigener, doch jetzt waren sie eindeutig aufgebraucht. Vermutlich lag es daran, dass Khor bis vor wenigen Stunden tot gewesen war. Das musste dem Organismus doch ziemlich zusetzen. Von null auf hundert, das hielt der Stärkste nicht durch.
Matteo stieß ein bitteres Lachen aus. Er war die Maschine, die den Körper eines Toten antrieb. In Wahrheit war er gar nicht vorhanden, nicht mehr am Leben, selbst tot. Wahrscheinlich hing seine Leiche zwischen den Welten fest und gammelte vor sich hin.
Seine Sicht verschwamm unter einem silbrigen Tränenschleier. Wie er sich für diese Schwäche hasste! Er war viel zu weich für diese Welt. Sensibel , sagte seine Mutter immer. Zu Hause gelang es ihm ganz gut sich zuzumauern. Niemanden an sich heranzulassen. Hier war er ein anderer, nicht nur rein äußerlich. Khor hätte bestimmt nicht geweint. Entschlossen schniefte Matteo auf und würgte die Tränen hinunter. Krieg dich wieder ein, vielleicht besteht ja doch eine Chance, dass du deinen Körper zurückbekommst . Schließlich hatte Lev-Chi auch Khors Körper am Leben erhalten, da würde die Kaiserin das mit seinem wohl auch schaffen. Sie mussten ihn nur finden.
Lith hatte angehalten. Aufmerksam suchte sie die Felskante über ihren Köpfen ab. Formte mit den Händen einen Trichter und ahmte den Ruf eines Käuzchens nach. Mehrere Male, bis er erwidert wurde. Eine Gestalt tauchte an der Kante auf. Sofern Matteo sich nicht täuschte, war es ein Mann. Jetzt hob er die Hand zum Gruß und Lith winkte zurück. Nach einem skeptischen Blick zu Matteo setzte sie sich wieder in Bewegung.
Matteo konnte nicht mehr. Am liebsten hätte er sich an Ort und Stelle hingelegt. Wäre einfach eingeschlafen. Doch diese Blöße konnte er sich vor Lith nicht geben.
Er musste gehen. Ein Schritt, der nächste, wieder einer – zu jedem einzelnen musste er sich zwingen. Steine kollerten unter seinen Füßen weg, der Berghang neigte sich ihm entgegen, der Pfad verwandelte sich in eine Achterbahn. Trotzdem stakste er vorwärts, Schritt für Schritt, wie ein Roboter.
Dann strauchelte er. Im Fallen fühlte er sich von starken Händen gepackt. Jemand zog ihn wieder hoch, schleppte ihn weiter. Und weiter und weiter …
Kühles Wasser benetzte seine Lippen, er trank gierig, konnte kaum genug bekommen. Sein Kopf lag in einer Armbeuge und er ging davon aus, dass es nicht Lith war, die ihn stützte. Matteo blinzelte ins abendliche Rot. Nein, da hockte sie vor ihm, einen Trinkschlauch in der Hand, und sah ihn besorgt an.
»Besser?«, fragte sie.
Er nickte. »Etwas.«
»Kannst du allein gehen? Es ist nur noch ein kleines Stück durch die Höhlen. Guney kann dich notfalls auch tragen.«
Matteo richtete sich auf. Sein Retter lächelte ihm aufmunternd zu. Die Haut einen Ton dunkler als Liths, die Haare im gleichen Grünton, aber kurz geschnitten, ein nackter Oberkörper, Muskelberge. Oh ja, Guney konnte ihn zweifellos tragen.
»Nein, danke. Ich schaffe das schon.«
Guney half ihm beim Aufstehen.
Lith gab ihm den Trinkschlauch zurück. »Danke dir.«
Guney nickte. »Immer wieder gern. Gute Nacht.«
Der Pfad schmiegte sich noch ein paar Meter an die Felswand, dann endete er vor einer Schlucht. Sie starrten nach unten.
»Sieht nach dem Ende der Welt aus«,
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