Der Puls von Jandur
Mohammed oder Buddha –, jede hat eigene Schriften und einen … Versammlungssaal, ein Gebäude, in dem man sich zum Beten trifft und das jeweils einen anderen Namen trägt – Kirche oder Moschee oder Tempel.«
»Das ist interessant«, meinte Ansho. »Wir wissen so wenig über die Splitterwelt. Die Tore müssen verschlossen bleiben, es darf keinen Austausch geben.«
Matteo streifte Lith mit einem Blick. Sie hatte sich abgewandt und zupfte verdächtig unbeteiligt an ihren Handschuhen herum.
»Wo waren wir noch gleich?« Ansho kratzte sich am Kinn. »Ach ja. Die Quellbruderschaft wurde immer mächtiger, was leider nicht nur Gutes bewirkte. Die Menschen wurden gezwungen, in die Tempel zu kommen. Ungläubige wurden verfolgt und getötet und unser Volk musste Hederra verlassen und in die Berge fliehen. Das ist nun über hundert Jahre her. Hier leben wir in Ruhe und Abgeschiedenheit, kaum jemand kennt den Zugang zu den Höhlen und wir tun alles, um unser Geheimnis zu bewahren. Das hat leider auch den Nachteil, dass wir von der Welt abgeschnitten sind und über die Geschicke Jandurs nur wenig erfahren.«
»Weshalb mussten die Squirre von Hederra flüchten?«, wollte Matteo wissen. Er hätte Liths Vater ewig zuhören können, nur um endlich mehr über dieses merkwürdige Land zu erfahren. »Weil ihr nicht an diesen Quell glaubt?«
Für einen Moment blieb es still.
»Wir glauben sehr wohl an den Quell und den Kreislauf des Lebens«, sagte Hlanda schließlich. »Nicht in gleichem Maße wie die Bruderschaft es verlangt, doch wir glauben.«
»Die Bruderschaft zieht Nutzen aus unserer Gabe«, ergänzte Ansho. Er drehte seine Handgelenke nach oben, als beantworte dies alle Fragen.
»Aha.« Matteo starrte verständnislos auf die Handschuhe und wieder hoch in Anshos Gesicht. »Und wie?«
»Wie du weißt, hat jedes Lebewesen einen ganz bestimmten, individuellen Puls. Er gibt Energie ab, eine pulsierende Strahlungswelle, die wir spüren können. Über unsere Fascia.«
»Fascia? Faszien? Das ist doch so etwas wie Bindegewebe …«
Ansho streifte einen seiner Handschuhe ab. Und endlich sah Matteo, was sich darunter verbarg.
An der Innenseite von Anshos Handgelenk befand sich ein münzgroßes blassrosa Gewebe, das sich nun, da es frei lag, zu kräuseln begann. Hautwülste stülpten sich nach außen, dann glitt ein etwa zehn Zentimeter langes Tentakel hervor und entfaltete sich mit leisem Knistern zu einem glitzernden Fächer.
»Wie schön!«, hauchte Matteo ergriffen.
Nie zuvor hatte er etwas derart Zauberhaftes gesehen. Der Fächer war gut doppelt so groß wie eine menschliche Hand und von feinen Äderchen durchzogen, die deutlich pochten. Obwohl im Grundton rosa, schimmerte er im Licht der Flammen in allen nur erdenklichen Farben.
»Das ist eine Fascia«, erklärte Ansho. »Alle Squirre haben sie. Sie sind Segen und Fluch für unser Volk. Mit ihnen sehen und spüren wir all das, was anderen Menschen verborgen bleibt: Gedanken und Gefühle, Schmerz, Leid, Hass, Zorn und Angst, aber auch simple Dinge wie die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit oder unterschiedliche Materialien. Und … den Puls.«
Er brachte seine Fascia nah an Matteos Bauch heran, dort wo Jacke und Hemd den grünen Fleck verdeckten. Jenen Teil seines neuen Körpers, über den er sich verboten hatte nachzugrübeln.
Ein ganz eigener Ausdruck trat in Anshos Gesicht, eine Mischung aus tiefster Befriedigung, Aufregung und Ehrfurcht. Oder war es gar Schmerz? Matteo wusste ihn einfach nicht zu deuten.
»Welch unglaubliche Energie«, flüsterte Ansho. »Ja, kein Zweifel, du bist der Lichtpuls. Und du hast Angst.«
Matteo saß im Höhleneingang direkt an der Felskante und ließ die Beine nach unten baumeln. Er hatte geschlafen wie ein Stein. War erst durch vielstimmiges Vogelgezwitscher geweckt worden, das so laut in seinen Ohren hallte, als hockten die frechen Biester direkt neben seinem Kopf.
Mangels Toilette hatte er sich ins Freie und hinter einen Felsvorsprung begeben. Was hätte er auch anderes tun sollen? Nach Lith zu suchen und sie danach zu fragen hatte er genau eine Sekunde lang in Erwägung gezogen.
Die Morgendämmerung zerfaserte den Nachthimmel, erste Vorboten der Sonne färbten die Wolkenbäusche glühend rot, der Bergkamm gegenüber war ein tiefschwarzer Scherenschnitt. Alles wirkte so unwirklich. Wie auf einer kitschigen Postkarte.
Matteos Gedanken waren beim Vorabend. Viel hatte er nicht mehr in Erfahrung bringen können, aber das war nicht
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