Der Puls von Jandur
landen, weil du nicht weiterfliegen konntest. Du hast uns das eingebrockt.«
»Also das ist doch …« Was für eine Frechheit! Am liebsten hätte er ihr eine gescheuert. »Du hast ’nen Knall, weißt du das? Der Schlangenläufer … war völlig fertig … er wäre …« Was wollte er noch gleich sagen? Worte stoben durch seinen Kopf, er konnte sie nicht mehr sortieren, geschweige denn aussprechen. Vor seinen Augen flimmerte es.
»Lass uns gehen«, sagte Lith dumpf und stapfte auch schon los. Immer der Straße nach. Aus dem Dorf, hinein ins Nirgendwo.
Wütend schlurfte er hinterher.
Sie ließen die Häuser hinter sich und tauchten in die gelbbraune Einöde ein. Unter ihren Füßen quoll tiefer Sand, der das Gehen zur Qual machte. Jeden Schritt musste man zweimal setzen, um überhaupt vom Fleck zu kommen. Von der Straße war nichts mehr zu sehen, aber Lith beteuerte, dass sie ihr immer noch folgten.
Die Sonne glühte erbarmungslos auf sie herab, kein Lüftchen regte sich. Matteos Haut brannte wie Feuer – ein Sonnenbrand, hinzu kamen die Insektenbisse. Einige Stellen hatte er bereits blutig gekratzt. Die Weste hatte er sich auf den Kopf gelegt, weil die Hitze anders nicht auszuhalten war.
Bereits nach kurzer Zeit hatten sie den ersten Trinkschlauch geleert. Den zweiten hielt Lith eisern unter Verschluss. Sie mussten sich das Wasser einteilen, wenn sie bis zum Abend damit auskommen wollten.
Matteo dachte an die Eiseskälte in der Nacht, für einen Moment sehnte er sie herbei. Gleich darauf stellte er wirre Überlegungen an, wo sie ein geschütztes Plätzchen finden könnten, ob es dort auch Wasser gäbe und was sie essen würden. Dazwischen verweigerte sein Gehirn die Mitarbeit, bot ihm stattdessen weiche Wattewolken an. Sie dämpften alles ab. Seine Schritte, seine Atemzüge, seine Gedanken. Es war angenehm und sein Bedürfnis, sich einfach hineinfallen zu lassen, wuchs.
»Steh auf«, sagte Lith.
Es waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete. Nach einer halben Ewigkeit, so schien es ihm.
»Hm?«
»Steh auf! Los, du musst … weitergehen.« Sie zerrte an seiner Hand.
Taumelnd kam Matteo auf die Beine. Er hatte keine Erinnerung daran, dass er gestürzt war.
»Wenn wir … hier liegenbleiben, sterben wir«, erklärte sie stockend.
Er nickte. Ja, das war einleuchtend. Also gehen.
Sie staksten weiter. Lange, lange, lange. Dann war es Lith, die fiel.
»Auf… aufstehen«, befahl Matteo und sackte neben ihr auf die Knie. Ihm war schwindlig und übel und obendrein heiß. Das auch. Vor seinen Augen tanzten drei rote Gesichter, dreimal der grüne Haarschopf, drei Liths. Kam das von der Hitze? Vom Durst? Von …?
»Trinken«, murmelte sie.
Er fummelte am Proviantsack. Seine Finger waren dick und steif, jedes Gefühl war daraus gewichen. So sehr er sich auch abmühte, er konnte die Verschnürung einfach nicht lösen. Er ärgerte sich, wusste einen Augenblick später nicht mehr, weshalb.
Lith tastete nach seinem Arm. »Mir ist so … schlecht.«
Sie sah nicht gut aus. Glasige Augen, blutig aufgerissene Lippen und die Pusteln … Täuschte er sich oder wurden sie in der Mitte weiß?
»Ja, mir auch.« Matteo brauchte zwei Anläufe, um ihr an die Stirn zu greifen. »Du hast … Fieber.«
»Nein. Nur … die Hitze.«
»Das … kann nicht sein.« Er warf einen Blick zum Himmel. »Wie spät …?«
Sonne.
Hitze.
Wüste.
Verstört stierte Matteo auf den Trinkschlauch in seiner Hand. Wann hatte er ihn hervorgeholt? Wie lange lagen sie schon da? Er setzte ihn an Liths Lippen, kippte ihn – er war leer. Er warf ihn zur Seite, lauschte.
Ihr Atem fehlte.
Er lauschte wieder.
Ein Trommeln.
Sein Herzschlag?
Ihr Herzschlag?
Das Trommeln wurde lauter.
Dann waren da rote Beine. Hufe. Unmengen davon. Schnauben und Prusten. Wirbelnder Sand. Männerstimmen.
»Lebt er?«
Jemand fasste an seinen Hals. Eine kühle Hand. So kühl.
»Ja, der Junge lebt.«
»Und die Squirra?«
»Tot, glaube ich.«
»Wir nehmen ihn mit, schnell!«
Mitnehmen? Wohin? Und Lith? Ein Schrei schraubte sich in seiner Kehle hoch.
Hände griffen unter seinen Körper, Schmerz spaltete seinen Bauch, grünes Licht blendete ihn – und die Hände waren weg.
»Verflucht«, stöhnte ein Mann. »Was ist das denn?«
»Nein«, krächzte Matteo. »Nicht ohne sie …« Lith. Er musste Lith beschützen.
Beschützen …
Neun
Splitter flitzten hin und her, stachen und zerschnitten seine Gedanken, und in jedem spiegelte sich eine Erinnerung.
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