Der Puls von Jandur
Sie seufzte tief. »Ich war auf der Suche nach meinem Bruder, da fiel ich seinen Spähern in die Hände. Sie nahmen mich mit nach Shinjossa. Nador ließ mir keine Wahl. Er wollte mich an die Quellbrüder ausliefern, ich musste es tun.«
»Was genau ist denn nun bei der Sache schiefgegangen? Wieso kam mein Körper nicht hier an? Passiert so was öfter?«
Lith schluckte deutlich hörbar. »Eigentlich nicht. Ich weiß nicht, warum es bei dir nicht geklappt hat. Vielleicht lag es ja an dem Betäubungsmittel.«
»Du hast mich betäubt ? «
»Ja, Lev-Chi gab mir dieses magische Pulver mit, man streut es über das Gesicht und … na ja. Wie hätte ich dich sonst dazu bringen sollen, mit mir zu kommen? Wärst du denn mitgegangen, wenn ich in deinem Zuhause aufgetaucht wäre und dir von Jandur und Khor erzählt hätte? Du hättest mir niemals geglaubt.«
»Na ja, als du zum zweiten Mal gekommen bist, habe ich dir doch auch geglaubt«, sagte er wenig überzeugt.
»Das war ein harter Kampf. Ich musste all meine Überredungskünste einsetzen. Und das, obwohl du bereits körperlos warst.«
»Hm …«
»Siehst du. Also musste ich dich im Schlaf betäuben. Aber du kamst niemals in Jandur an und Lev-Chi meinte, dass du dabei …«
»Dass ich gestorben bin.« Wie eigenartig sich das anhörte. Mach dir keine Sorgen, Andrea. Ich bin mal eben gestorben.
»Mhm. Aber daran glaube ich nicht. Weißt du, zwischen den Welten läuft die Zeit anders ab. Langsamer. Dein Körper kann noch am Leben sein.«
Er hätte gern ihre Zuversicht gehabt. »Und Lord Nador schickte dich noch einmal los, um meine Seele … äh, meinen Puls zu holen?«
»Nein. Er dachte, wir wären gescheitert.« Sie zögerte. »Ich habe ihm den Vorschlag gemacht.«
»Aber warum? Es konnte dir doch egal sein. Du hast getan, was er wollte, basta. Pech für ihn, dass es nicht geklappt hat.«
Lange blieb sie still. Was dann kam, hätte Matteo nie erwartet.
»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dein Puls in der Splitterwelt zurückgeblieben war. Dass er dort vergehen und du endgültig sterben würdest. Ich wollte nicht für deinen Tod verantwortlich sein. Und ich …«
»Hm?«
Sie drehte sich in seiner Umarmung um, wandte ihm jetzt das Gesicht zu. Ihr warmer Atem strich ihm über die Wangen und mit ihm ihr erdiger Duft. Sein Herz begann auf einmal wie verrückt zu klopfen.
»Ich mag dich, Matteo«, wisperte sie. »Ich glaube sogar, ich habe mich in dich verliebt.«
Klatsch! Hätte ihm jemand eine Ohrfeige verabreicht, es hätte sich nicht anders angefühlt.
»Was?« Er wollte noch ein »Was redest du da?« hinzusetzen, doch Lith verschloss seine Lippen mit einem Kuss. Er war so flüchtig und so hingehaucht, dass Matteo sich fragte, ob er das nur träumte. Und schon rollte sie wieder herum und schmiegte sich an ihn. Ganz von selbst legte sich seine Hand auf ihre Hüfte, kein Gedanke, sie woanders hinzutun.
Sie sagte nichts mehr und er suchte in seinem konfusen Hirn nach einer passenden Entgegnung. Ihm fiel nichts ein.
Sie hatte sich in ihn verliebt ? Gerade sie? Wo sie sich andauernd stritten, von den Ohrfeigen ganz zu schweigen. Wo er ständig das Gefühl hatte, dass sie ihm etwas verheimlichte, dass sie nicht ehrlich zu ihm war.
Matteo öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu. Nein, er konnte ihr nicht antworten.
Ein Gutes hatte der Kuss jedenfalls: Kalt war ihm jetzt nicht mehr. Das Blut rauschte durch seine Adern, selbst in den Fingerspitzen spürte er das Pochen. Sie hatte ihn geküsst. Einfach so. Gut, es war nicht sein erster Kuss. Aber der erste, der seltsamerweise etwas bedeutete.
Matteo lag auf dem Rücken und starrte in den morschen Dachstuhl. Es dauerte seine Zeit, bis der Computer in seinem Kopf hochgefahren war und ihn mit Daten belieferte. Bis er sich daran erinnerte, wo er war und vor allem wer er war. Und was am Vortag passiert war.
Es war hell und drückend heiß. Durch das Loch im Dach blitzte der Himmel, so gleißend blau, dass ihm die Augen schmerzten. Er blickte zur Seite – der Platz neben ihm war leer. Wo war Lith?
Stöhnend setzte er sich auf, alles tat ihm weh. Kam das vom ewig starren Sitzen während des Fluges oder was war los?
Seine Beine, seine Arme fühlten sich angeschwollen an, die Haut juckte. Ganz automatisch begann er zu kratzen und hielt bestürzt inne, als er die Pusteln auf seinem Handrücken bemerkte. Kreisrunde, rote Flecken. Wie von Insektenstichen. Die Hand war doppelt so dick wie gewöhnlich. Na toll.
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