Der Puls von Jandur
dann stahl sich ein Grinsen auf ihre Lippen.
Er funkelte sie wütend an. Da rackerte er sich für sie ab, riskierte sein Leben und sonst was, und sie amüsierte sich auf seine Kosten. Miststück.
Sie drehte sich wieder nach vorn, ihre Schultern zuckten verdächtig. Schön, sollte sie ihn ruhig auslachen. Aber das würde er ihr noch unter die Nase reiben, demnächst, so viel war sicher.
Das Barca hatte beschlossen, wieder geradeaus zu galoppieren. Es guckte ihn zwar weiterhin wachsam an, wich aber nicht mehr zur Seite, als Matteo zum nächsten Versuch ansetzte.
»Brav«, schnaufte er. »Ich tu dir nichts, ich will nur auf dir reiten.«
Er schwang das Bein über den Sattel, drückte sich von der Wand ab, löste eine Hand vom Seil. Eben wollte er sich aufrichten, da holperte der Wagen über ein Schlagloch. Aus dem Wageninneren ertönte ein Scheppern, das Barca machte einen Satz. Matteo wurde aus dem Sattel gezogen und flog gegen die Planken, das Seil glitt ihm aus der Hand. Er landete im Dreck und der Wagen rollte in einer Staubwolke davon.
Ein Meter, zwei, drei …
Matteo plagte sich hoch und rannte hinterher. Die Panik stellte sich ihm als unsichtbare Wand entgegen, machte seine Beine schwer und ließ seine Lungen streiken. Ein Atemzug war mühsamer als der andere. Er kämpfte dagegen an, strauchelte, fiel hin. Der Stich im Knie fuhr ihm bis ins Hirn. Er kam wieder in die Höhe, hetzte weiter.
Er musste den Wagen erreichen, koste es, was es wolle.
Die Straße machte eine Kurve, der Zwerg drosselte die Geschwindigkeit.
Ja, bitte …
Er war ein guter Läufer. Immer gewesen. Er war den Jugendmarathon gelaufen, hatte etliche Sprints bei den Schülermeisterschaften gewonnen. Egal in welchem Körper – es war eine reine Kopfsache. Du kannst es! Du kannst es!
Endlich gehorchten seine Beine, seine Schritte wurden länger, sein Atem freier, er holte auf. Lith schaute sich nach ihm um, da war kein Lachen mehr, nur mehr Angst.
Der Vorhang flatterte. Ein Sprung …
Matteo hechtete auf den Wagen, taumelte, krallte die Finger in den Vorhang, der auch sogleich unter seinem Gewicht riss. Er griff nach, stemmte sich mit der anderen Hand hoch, hievte sich über die Kante. Hinein ins stickig-warme Dunkel.
Lange lag er auf dem Boden. Sehr lange. Reglos. Erschöpft. Er hatte es nicht geschafft. Seine waghalsige Kletterei war umsonst gewesen. Alles umsonst.
Irgendwann begann er seine Verletzungen zu zählen. Zu seiner Wunde am Unterarm waren ein geschwollenes Knie, blutig gescheuerte und teilweise zerschnittene Handflächen und eine aufgeplatzte Lippe hinzugekommen. Super, er war ein Wrack. Reif fürs Krankenhaus.
Das einzig Gute war, dass der Zwerg von der ganzen Aktion nichts bemerkt hatte. Herzlichen Dank an alle Ketten, Töpfe, Kannen und sonstiges Gerümpel.
Und nun? Wie sollte es weitergehen? Er hatte genau zwei Möglichkeiten: den Zwerg ermorden oder warten, bis sie anhielten, und dann sofort die Gelegenheit ergreifen und Lith befreien. Egal wie. Was vermutlich aufs Gleiche hinauslief, nämlich: den Zwerg ermorden. Punkt. Aus.
Die Entscheidung, ob gleich oder später, wurde ihm abgenommen. Der Wagen wurde langsamer und hielt für einen Augenblick an. Der Zwerg sprach mit einem Mann. Von Geschäften war die Rede und davon, dass er nur zwei Tage bleiben wolle.
Gleich darauf rumpelten sie durch ein Tor, eine aus Steinquadern errichtete Mauer blieb hinter dem Wagen zurück. Zwischen den Vorhangfragmenten wurden Häuser sichtbar. Keine halb verfallenen Bauernhäuser. Sondern schmucke mehrstöckige Gebäude mit Ziegeldächern und bunten Türen und Fensterläden. Eines reihte sich an das andere und es wurden immer mehr. Eine Stadt.
Die Straße war gepflastert und eng und erstaunlicherweise belebt. Da gingen Menschen, ganz normale Menschen – zur Abwechslung mal keine Soldaten. Und er hatte schon fast gedacht, Jandur wäre nur von Fabelwesen bevölkert.
Staunend musterte Matteo die unterschiedlich gekleideten Leute. Die Frauen trugen Kleider oder lange Röcke, manche waren feiner angezogen, andere ein wenig zerlumpt. Die Haare hatten sie zu Zöpfen oder Kränzen geflochten oder unter bunten Tüchern und Hauben versteckt. Bei den Männern verhielt es sich ähnlich. Da waren welche mit Gehstock, langem Jackett und Hut unterwegs, andere wiederum in zerbeulten Kniebundhosen, geflickten Hemden und Kappen. Arm und Reich. So wie in jeder Stadt.
Der Wagen holperte jetzt langsam dahin, die Strauße krächzten unwillig.
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