Der Puls von Jandur
Reiter auf Barcas querten. Offene Karren fuhren vorbei, gezogen von Ochsen mit grauem Zottelfell und silbrig glänzenden Hörnern. Ein Junge schob einen Handwagen, aus dem drei Ferkel guckten. Hühner und Gänse pickten Körner. Die blau uniformierte Stadtwache marschierte in Reih und Glied. Ein kleines Mädchen führte eine Ziege am Strick. In einem Hauseingang lungerte ein Bettler, das Gesicht von Narben gezeichnet.
Matteo sog die ungewohnte Lebendigkeit in sich auf. Auch der Markt war ein Erlebnis für sich. Der Lärm zwischen den Fuhrwerken und Ständen war unbeschreiblich. Die Marktschreier versuchten einander zu übertreffen und besonders die Wunderheiler hatten regen Zulauf an Kunden. Sie boten Kräuterelixiere, die Haare zum Sprießen bringen sollten, an. Oder Salben gegen Hexenschuss und Zerrungen. Tropfen für und gegen so ziemlich alles. Matteo grinste. Vielleicht sollte er sich hier verarzten lassen.
Wieder fuhren sie durch eine enge Gasse. Leute sprangen zur Seite, ein alter Mann schüttelte drohend die Faust, eine Frau schlug die Hand vor den Mund.
Der nächste Platz war noch größer, dafür still und verlassen. Ein paar Tauben flogen auf, ein Junge mit einer Milchkanne in der Hand hastete vorüber, sonst war da niemand. Ein krasser Gegensatz zu dem Trubel gerade eben, fand Matteo. Irgendwie unheimlich.
An der Längsseite stand ein hohes Gebäude, das beiderseits von zwei monströsen Türmen flankiert wurde. Sie hatten kein Dach, dafür Schießscharten und Zinnen, die wie ein marodes Gebiss in den Himmel ragten. Zwei Fahnen flatterten im Wind, eine weiß-blaue mit einer Art Springbrunnen darauf und eine gelbe, auf der ein Löwe – oder war es eine Sphinx? – prangte. Das Gebäude erweckte einen bedrohlichen Eindruck, was daran liegen mochte, dass die Frontseite von einem schwarzen metallenen Tor und finsteren Fensterlöchern beherrscht wurde.
Mitten auf dem Platz befand sich ein hölzernes Podium, etwa drei Meter hoch. An zwei Seiten führten Treppen nach oben. Ein merkwürdiges Gerüst war darauf errichtet. Matteo starrte es an, starrte weiter und erst mit zunehmender Entfernung begriff er, was es damit auf sich hatte: Es war ein Galgen.
Ihn schauderte.
Der Wagen hielt an. Matteo tastete sich nach vorn und lugte durch den Spalt. Was er sah, war höchst beunruhigend. Sie hatten ihr Ziel erreicht: den Tempel.
Er hatte mit einem prächtigen Bauwerk gerechnet, das seinem Namen und Zweck gerecht wurde. Mit Säulen aus weißem Marmor, mit einer weitläufigen Halle, ganz im Stil der griechischen Antike errichtet. Weit gefehlt.
Das hohe, ockerfarbene Gemäuer, das sich gut dreißig Meter in beide Richtungen erstreckte, glich eher einem Gefängnis. Nicht ein Fenster durchbrach die massiven Wände, nur ein hellbraunes Holztor, das von weißen Fahnen eingerahmt wurde. Jetzt erkannte Matteo das Zeichen der Bruderschaft: eine Quelle, die aus einem Stein entsprang – der Quell des Lebens.
An diesen Tempel sollte Lith also verkauft werden.
Die Strauße waren zu zwei rosa Federhaufen zusammengesunken, nur die Köpfe guckten hervor, und eben stülpte der Zwerg die Hauben darüber. Liths Barca scharrte nervös mit dem Huf, als spürte es die Anspannung, die seine Reiterin befallen hatte.
Die Leine um Liths Hals war gestrafft. Ihre Züge waren verzerrt, sie keuchte. »Matteo«, formten ihre Lippen.
Er überlegte nicht länger, sondern zückte das Messer und schoss zum Ausstieg. Der Wagen geriet ins Wanken und das Gerümpel darin verkündete mit Scheppern und Rasseln, dass es einen blinden Passagier an Bord gab. Er war nicht zu überhören.
Als er hinaus und um die Ecke stürzte, war der Zwerg schon bei Liths Barca angelangt. Besitzergreifend zerrte er an Zügeln und Seil. Mit der Rechten zog er das Schwert.
»Stehenbleiben!«, keifte er an Matteo gewandt. Er hatte Mühe, das tänzelnde Barca unter Kontrolle zu halten. Es prustete bedenklich große Rauchkringel. Das Seil schnitt in Liths Hals, Zorn flammte in ihren Augen auf und sie ergriff ihre Chance.
Mit einem gebrüllten »Jetzt!« sprang sie ab, dem Zwerg entgegen. Sie riss ihn nieder, so dass er das Schwert verlor. Ein wilder Zweikampf entbrannte.
Matteo war wie paralysiert. Er sah nur ein Knäuel aus Armen, Beinen und Seilen. Wie sollte er da eingreifen?
Das Barca setzte sich auf die Hinterbeine und ruckte mit dem Kopf. Vergebens – die Zügel hatten sich irgendwo festgewickelt, es konnte sich nicht losreißen. Es schnaubte und blies einen
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