Der Puls von Jandur
können. Von seinem fremden Körper, zu dem er nicht gehörte und der begonnen hatte, über ihn zu bestimmen. So lange, bis er ihn als seinen eigenen angenommen hatte. Von der Prophezeiung. Von seinem Puls und den Schmerzen, wenn er mal wieder aus seinem Bauch hervorschoss. Von Brizio und seinem Alkoholproblem. Wie allein gelassen er sich fühlte. Sogar von Jakob erzählte er.
Die Tränen stürzten nur so aus ihm heraus, als er sein Innerstes vor ihr ausbreitete, und es beutelte ihn vor Verzweiflung. Aduka unterbrach ihn nicht, fragte nicht nach, gab keinen Laut von sich. Völlig reglos saß sie neben ihm und hörte einfach nur zu. Irgendwann war sein Hirn leergeräumt und leicht wie ein Ballon.
Sie blieb still.
»Tut mir leid«, sagte Matteo. Auf einmal war ihm sein Ausbruch peinlich. Er rubbelte mit beiden Händen über sein Gesicht, verschmierte Dreck, Blut und Tränen. Das Ergebnis des heutigen Tages. Viel hatte er nicht vorzuweisen.
»Das muss es nicht«, sagte sie sanft. »Manchmal muss man Ballast abwerfen, um neuen aufnehmen zu können. Du hast meine Vermutung bestätigt, was deine Kräfte betrifft: Du bist stark genug für dein Schicksal. Auch dein Herz kann geheilt werden, aber dein Körper«, Aduka griff nach seinem Arm und schob die Ärmel von Jacke und Hemd hinauf, »ist krank. Hier.« Behutsam betastete sie die wulstig zugeheilte Schnittwunde, die stellenweise schwarz gerändert war. Matteo biss sich vor Schmerz auf die Unterlippe. »Es wird dich auffressen, schon bald.« Aduka sprang so flink auf, wie er es ihr nie zugetraut hätte. »Komm mit. Ich weiß jemanden, der dir helfen kann.«
»Aber Lith …«, protestierte er.
»Du kannst nichts für sie tun. Nicht jetzt. Und wenn du nicht mitkommst, wirst du bald gar nichts mehr tun können, sondern fiebern und am Ende sterben. Also komm.«
Sie traten aus dem Schatten. Die Abendsonne bohrte sich durch die Wolkenberge, kletterte über die Hausdächer und in Adukas Gesicht. Matteo keuchte auf. Sie war nicht alt! Vor ihm stand eine junge Frau, in deren Haut sich tiefe Furchen gegraben hatten. Sie sah aus wie eine Siebzigjährige, doch sie bewegte sich rasch und sicher, beinahe katzenhaft.
Er blinzelte sein Erstaunen weg und beeilte sich, ihr zu folgen. »Wie alt …?«
»Ich bin?«, fiel sie ihm ins Wort und schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln. »Nicht so alt, wie ich aussehe. Zweiundzwanzig.«
»Zweiundzwanzig?« Matteo konnte es nicht glauben. »Aber dein Gesicht, deine Haut? Woher kommt das?«
»Von der Arbeit im Tempel. Ich kann dir davon erzählen, doch nicht hier.«
Aduka führte ihn durch ein Gewirr von engen Gassen. Matteo versuchte sich den Weg zu merken, musste es aber bald wieder aufgeben. Die Stadt war ein Labyrinth. Die Häuserzeilen waren mehrfach ineinander verschachtelt. Da waren Tore, wo man keine vermutet hätte, Treppen, die scheinbar ins Nichts führten, schmale Durchgänge von einem lichtlosen Innenhof zum nächsten.
Die Menschen, die ihnen begegneten, eilten meist mit gesenkten Köpfen an ihnen vorbei oder wandten sich bewusst ab. Andere wechselten gar die Richtung, wenn sie Aduka kommen sahen. Gespräche verstummten abrupt oder es wurde hinter ihnen getuschelt. Matteo gewann rasch den Eindruck, dass die Leute nichts mit der Squirra zu tun haben wollten. Sie behandelten sie wie eine Aussätzige. Aduka selbst schien das nicht zu stören, sie schritt erhobenen Hauptes voran und verzog nicht die Miene.
Vor einer grünen Tür in einer düsteren Sackgasse hielten sie an. Aduka blickte sich ein paar Mal um, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren. Dann klopfte sie in einem bestimmten Rhythmus an: dreimal kurz, Pause, einmal, Pause, dreimal kurz. Sie warteten und als sich nichts rührte, wiederholte Aduka die Klopfzeichen.
Die Tür wurde aufgerissen, eine Frau steckte den Kopf heraus. Eine hellhäutige Frau mit blauen Augen und blondem Haar – eindeutig keine Squirra. Ihr Zopf war akkurat geflochten, das braune Trägerkleid, das sie über der weißen Bluse trug, war geflickt, aber sauber. Sie schien nicht gerade begeistert über ihren Besuch zu sein.
»Du sollst doch nicht mehr kommen«, zischte sie unfreundlich und wollte die Tür auch gleich wieder zustoßen, doch Aduka hatte schon den Fuß dazwischen gestellt.
»Ist dein Mann da?«, fragte sie.
»Nein. Und jetzt verschwinde!«
»Wir brauchen seine Hilfe.«
»Das interessiert mich nicht. Hau ab!«
»Wer ist das?«, konnte man es von drinnen vernehmen. Es war
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