Der Puls von Jandur
beruhigende Quote, fand Matteo.
»Kann trotzdem nicht schaden, sicher ist sicher.« Sebastján entnahm eine Ampulle aus einer Gummihalterung und schüttelte sie. Er zog eine Spritze auf und injizierte Matteo das Serum ins Gesäß. »Der Arm bereitet mir Sorge, das war wirklich allerhöchste Zeit. Ich spritze dir heute und morgen das Antibiotikum, dann werden wir weitersehen, womöglich reichen danach Tabletten aus. Ein paar habe ich noch.«
»Ich kann nicht bleiben«, sagte Matteo.
Sebastján hielt inne. »Du riskierst eine Sepsis, wenn wir das nicht behandeln. Damit ist nicht zu spaßen.«
»Schuld ist dieser Lev-Chi. Wie kann man bloß Ameisen zum Nähen verwenden?«
»So abwegig ist das nicht. Die Ameisennaht ist bei Naturvölkern auch heute noch eine bewährte Methode. Der Mann wusste schon, was er tat. Hättest du die Wunde sauber und unter Beobachtung gehalten, wäre es nicht soweit gekommen.« Er jagte Matteo die nächste Spritze in den Muskel. »Wo willst du überhaupt hin?«
Matteo zögerte. Das war eine gute Frage. Die Prioritäten hatten sich verschoben. »Zuerst Lith aus dem Tempel holen. Dann zur Kaiserin.«
»Zur Kaiserin? Sonst noch was? Möchtest du Präsident Bush besuchen?«
»Obama – und ja: nichts lieber als das.«
»O… wer?«
»Sie sind nicht auf dem letzten Stand. Bush ist Geschichte. Amerika hat einen neuen Präsidenten: Barack Obama, ein Schwarzer.«
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, sagte Sebastján kopfschüttelnd. »So lange ist das schon wieder her, die Zeit vergeht …« Er packte eine Spraydose aus. »Das ist ein lokales Anästhetikum, ein Vereisungsspray. Ist nicht optimal, aber etwas anderes habe ich nicht mehr. Ich muss nekrotisches Gewebe entfernen. Wird vielleicht wehtun.«
Matteo nickte ergeben und beobachtete, wie Sebastján Tupfer, Skalpell und Schere bereitlegte, alles steril verpackt. Er versuchte das Ablaufdatum zu entziffern. 2010. Na, hoffentlich wusste der Arzt, was er tat.
»In den Tempel reinzukommen ist nicht leicht«, sagte Sebastján jetzt. »Du musst auf die Zeremonie warten. Sie findet zweimal täglich statt, morgens und nachmittags. Doch da drängen sich die Massen, die halbe Stadt wartet auf Erlösung.«
»Erlösung?«, fragte Matteo verblüfft. »Wieso das?«
»Hat dir deine Squirra-Freundin das nicht erzählt? In Jandur glauben die Menschen an den Quell des Lebens und das Quellparadies. Das ist ein Ort des Friedens und der Gerechtigkeit, den man erst nach dem Tod betreten kann. Du erkennst das Dilemma? Das Leben auf Erden ist nur Vorstufe, eine Art Prüfung, das eigentliche Ziel ist die Erlösung – der Tod.«
»Das ist verrückt.«
»Das ist Glaube.« Sebastján sprühte den Spray auf die gereinigte Wunde. »Die Parallelen zu unseren Weltreligionen sind unverkennbar. Mit einem wesentlichen Unterschied: Selbstmördern wird der Zutritt ins Reich Gottes verweigert. Das Christentum verurteilt den Freitod als Sünde, der Islam ebenfalls, jedoch differenziert er zwischen Suizid und Märtyrertum. Die Grenzen sind fließend, wer im Kampf um die Verteidigung …«
»Und der Quell?«, unterbrach Matteo Sebastjáns Redeschwall. Die Anschauungen von Islam und Christentum interessierten ihn momentan nicht sonderlich.
»Der Quell selbst ist ein Geschenk der Unai-Choka an die Menschen. Er soll sie auf ihrem langen Weg in das Paradies vor Krankheiten beschützen und ihre Energie stärken.«
»Wer sind die Unai-Choka?« Nador und Lith hatten sie zwar erwähnt, aber mehr auch nicht.
»Lichtwesen. Die Schöpfer allen Lebens, die Urgötter sozusagen. Es gibt eine hübsche Geschichte über ihre Herkunft. Sie ist in den Schriften festgehalten und wirklich interessant zu lesen, das würde jetzt aber zu weit führen. Fazit ist: Sie beschlossen, Lebewesen nach ihrem Ebenbild zu erschaffen. Sie sollten intelligent, sterblich und Teil des Ewigen Kreislaufs sein, den sie Quell des Lebens nannten. Was vereinfacht gesagt folgendes bedeutet: Energie geht nicht verloren, sie ist fix eingebunden in dieses System. Wenn also ein Leben erlischt, wird aus seiner Kraft neues Leben geboren.
Und so schufen die Unai-Choka Menschen, Feen, Elfen, Zwerge und Nymuren. So unterschiedlich diese Rassen waren, eines war ihnen allen gegeben: der Puls und der Soplex, das Zentrum ihrer Energie. Ihnen zur Seite stellten die Unai-Choka vier Urwesen. Tiere und Pflanzen, die die vier Elemente symbolisieren, allen voran die Wölfe – als Begleiter und Hüter der Erde -, die Barcas
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