Der Puppendoktor
zurückzukehren und die Dünen rauf und runter zu klettern. Sie war nicht gestorben, als sie ein Stück von ihrem Körper ausgeliehen hatte. Nichts von ihrer Seele. An dem Tag, als sie mit Hilfe einer militanten Hilfsgruppe ihre Papiere bekommen hatte, hatte sie Karim ins Gesicht gespuckt.
Ihr Schwiegervater war nicht wirklich progressiv, aber er war ein guter Mensch. Moussa . er war nett zu ihr gewesen, aber es war keine Leidenschaft. Er hatte nicht verstanden, dass Nadja Stunden mit der alten Lehrerin aus dem fünften Stock verbrachte, um Lesen und Schreiben zu lernen. Er hatte nicht verstanden, dass Nadja sich schon ganz oben in einem Büroturm sah, im »Working Girl« -Kostüm, den Diplomatenkoffer in der Hand. Im Grunde, so sagte Nadja sich, hatten sie sich nie richtig verstanden.
KAPITEL 8
Schon kurz vor sieben Uhr morgens war es heiß und schwül.
Jean-Jean wärmte sich den Kaffee vom Vortag auf und knabberte an einem kalten Hühnerschenkel. Ausgerechnet an seinem freien Tag, dem einzigen Tag, an dem er ausschlafen konnte, musste so ein Idiot um halb sieben eine falsche Nummer wählen und ihn wecken! Ausgeschlossen, wieder einzuschlafen. Viel zu heiß in der Wohnung. Viel zu laut auf der Straße. Der Kaffee kochte pfeifend über. Jean-Jean machte schimpfend die Herdplatte sauber. Wusste nicht mehr, ob er schon Zucker in die Tasse gegeben hatte, gab einen Würfel hinein. Rührte. Probierte. Zu süß. Er leerte die Tasse im Spülbecken aus.
Schon wieder das Telefon. Wenn das derselbe Schwachkopf war, konnte der was erleben! Jean-Jean hob ab.
»Hallo!«
»Bonjour, Capitaine …«, säuselte eine Stimme.
»Wer ist am Apparat?«
»Sagen Sie, mögen Sie lieber Brust oder Keule?«
Sprach dieser Schwachkopf von seinem Hühnchenteil?
»Ist das ein TV-Spiel, oder was?«
»Gehen Sie zur Place Jean-Jaures. Dort erwartet Sie eine Überraschung.«
Plötzlich wurde Jean-Jean hellhörig.
»Eine … überraschende … Überraschung.«
Die Stimme war gedämpft, einschmeichelnd, sanft, eindeutig feindselig. Jean-Jean musste an die zischende Zunge einer Schlange denken. Bilder aus dem Trickfilm Das Dschungelbuch tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Jean-Jean verjagte sie und konzentrierte sich, so gut es ging, auf den keuchenden Atem am anderen Ende der Leitung.
»Waren Sie das, der mir das Geschenk in den Wagen gelegt hat?«
Kleines Klapperschlangenlachen am Ende der Leitung.
»Haben Sie sich darüber gefreut?«
»Wollen Sie mir noch viele Geschenke machen?«
»Ganz viele, Capitaine, ganz viele! Jetzt muss ich aber Schluss machen: Ich habe noch nicht gefrühstückt. Ich habe viele köstliche Sachen in meiner Gefriertruhe. Vielleicht lade ich Sie demnächst mal ein . Wiederhören!«
»Halt, warten Sie!«
Die Schlange hatte schon aufgelegt. Jean-Jean dachte nach und schlüpfte in eine saubere Jeans. Niemand hatte seine Privatnummer. Strengstens verboten, sie weiterzugeben. Wenn jemand mit ihm sprechen wollte, rief das Revier erst bei ihm an, um zu fragen, ob sie die Nummer weitergeben durften. Also? Wie hatte er das fertig gebracht?
Place Jean-Jaures: der übliche Posten von Marcel. Heute Morgen aber hatte Marcel keinen Dienst. Als Jean-Jean eintraf, war der Krankenwagen schon da, er parkte an einer Ecke. JeanJean hatte ihnen gesagt, sie sollten warten, bevor sie sich annäherten. Sie hatten gewartet.
Es war noch früh, und so war der Platz fast menschenleer. Die Stadt hatte noch diesen Geruch nach Frische, nach Sauberkeit, nach Neuem, der den Eindruck erweckte, dass alles noch möglich war, dass das Unerwartete noch geschehen konnte.
Auf der Cafeterrasse saß eine Bande von Halbwüchsigen - die Augen gerötet nach einer durchwachten, verräucherten Nacht -, aß schweigend Mengen von Croissants und trank Kaffee. Eine Familie frühstückte - die Koffer neben dem Vater, dessen Kopf unter einer Kapitänsmütze steckte. Austeilung von Ohrfeigen.
Tränen. Zwei Prostituierte, Schminke auf Halbmast, Haare zerzaust, lasen mit finsterer Miene, Seite an Seite, die Zeitung. Ein Straßenfeger, der fegte. Eine alte Dame auf einem Fahrrad, ein Baguette unter den Arm geklemmt. Ein Lieferantenwagen, mitten auf der Straße geparkt. Die noch erträgliche Morgensonne. Die Ruhe …
Er ließ den Blick noch einmal über den Platz schweifen.
Auf der Bank neben dem Brunnen saß ein alter Mann. Ein gräulicher Schlafsack bedeckte ihn bis zum Kinn. Den Kopf auf die Schulter geneigt, schien er zu schlafen. Jean-Jean
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