Der Puppendoktor
Optimist.
Er sah auf die Uhr. Wieder ein Tag überstanden. Heute Abend Training mit seinen Freunden. Er würde spät nach Hause kommen. Madeleine hätte schon gegessen. Umso besser. Der Anwalt hatte gesagt, es sei nur noch eine Sache von Wochen. Aber er durfte die eheliche Wohnung nicht verlassen. Das würde sich bei der Verhandlung negativ auswirken.
Jean-Mi, Paulo, Jacky und Benn saßen schon im Wagen. Jean-Mi riss ihn mit lautem Hupen aus seinen Gedanken. Marcel deutete auf seine Uhr. Seine Lippen formten »zehn Minuten«. Die anderen schimpften. Gesprächsfetzen drangen an sein Ohr, wenn der Verkehrslärm für kurze Zeit nachließ.
»Stell dir vor, sie hat eine Woche ausgehalten, diese Frau, eine Woche, ohne zu essen, ohne zu trinken, im Dunkeln beerdigt!«
»Ich wäre längst verrückt geworden, glaube ich .«
Ein R-25 setzte hektisch zurück, ramme die Stoßstange des hinter ihm parkenden Panda. Das Geräusch zersplitternder Scheinwerfer. Marcel machte sich wütend auf den Weg. Ein gelungener Abschluss eines Arbeitstages!
Ramirez schleppte sich dahin. Vier Labore hatte er schon abgeklappert. Trotzdem interessant, all diese Recherchen. Er liebte die Wissenschaften. Wie unbedeutend wir doch waren, wenn man mal darüber nachdachte. Versuchskaninchen für den lieben Gott, vielleicht? Dieser furchtbare Gedanke ließ ihn trotz der Hitze schaudern. Wie auch immer, er hatte seine Arbeit getan, Jean- Jean würde zufrieden sein. Und er, Ramirez, hatte seine Ruhe.
Die Analysen hatten nichts ergeben. Man musste anderswo weitersuchen. »Ihr müsst anders denken.« Jean-Jean überflog die Namensliste, die Ramirez ihm ausgehändigt hatte. Die Liste mit den Angestellten, die innerhalb der letzten fünf Jahre aus den Forschungslaboren »in vivo« entlassen worden waren. Gut, man musste die Namen, die Adressen usw. überprüfen. Reine Routinesache. Aber Jean-Jean spürte, dass dies eine heiße Spur war.
»Melanie, die Sache ist so heiß, dass ich fast verbrenne!«
»Oh, Capitaine, Sie gehen aber ran!«
Der kleine Mann war gereizt. Er hatte Hunger. Einen Bärenhunger. Er lief in seinem mit leeren Bierdosen übersäten Wohnzimmer im Kreis wie ein Tiger im Käfig. Er brauchte Bewegung. Er nahm seine Schlüssel, die auf dem Tisch lagen, verließ das Haus. Die Nacht war heiß. Klebrig. Er ging zum Hafenviertel.
Zerbrochene Biergläser vor einer Bar. Technomusik, die aus dem geöffneten Cabrio-Dach wummerte. Gesichter, glänzend von Schweiß und Schminke. Feuchtfröhliche Deutsche. Genervte Motorradfahrer kurz vor 'ner Schlägerei. Kleine Zigeunerkinder, die Arme voller Rosen, die ihre Sprüchlein mit monotoner Stimme aufsagten. Ein Typ plärrte Folksongs mit Fistelstimme, übertönt vom Saxofonisten, der vor der Bar nebenan spielte. Knatternde Mofas. Schreie. Pfiffe. Ein weinendes Kind.
Der kleine Mann registrierte alles, während er dahinschlenderte. Plötzlich verlangsamte er den Schritt. Interessant, was er da sah … Ein Alter mit Buckel, quasi ein Zwerg, torkelte mitten auf der Straße und sang aus vollem Hals eine Opernmelodie. Der Blick des kleinen Mannes wanderte von dem Buckligen zu einer auffallend großen Blondine im roten Minirock, die vor einem Cocktail saß. Quasimodo und Esmeralda, zu einer Kreatur verschmolzen, der Traum eines jeden Bildhauers!
Der Bucklige war stehen geblieben, um sich mit einem dieser Feuerzeuge, auf denen nackte Mädchen klebten, die »I love you« sagten, eine Zigarette anzuzünden. Die Liebe, die totale Verschmelzung, die sollte er haben, feixte der kleine Mann und spielte dabei automatisch mit seinem Medaillon.
Der Alte steckte das Feuerzeug mit zitternden Händen in die Hosentasche und entfernte sich, ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts, wie ein Schlittschuhläufer auf Asphalt, bevor er eine Bar betrat, eine verräucherte Spelunke am Ende des Hafens.
Der kleine Mann zog zufrieden an seiner Zigarette, schnipste sie weg und steuerte auf die große Blondine zu. Sie schlürfte ihren Cocktail und trommelte mit ihren langen lackierten Fingernägeln auf den gelben Plastiktisch. Der kleine Mann pflanzte sich neben ihr auf. Die Blondine hob die Augen zu diesem Wicht und seufzte mit gereizter Miene. Sie hatte stark hervortretende Wangenknochen, einen leuchtend rot geschminkten Mund, bläuliche Ringe unter den Augen, ein ausgeprägtes Kinn und regelmäßige Zähne.
Der kleine Mann zog sein Portemonnaie hervor und zählte zerstreut ein Bündel mit Scheinen ab, ohne die Blonde
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