Der Puppendoktor
zog zwei riesige schwarze Müllsäcke hervor, kehrte zu den Felsen zurück. Und - verpackt und los geht's!
Der Bucklige lehnte an der Theke und trank finster dreinblickend vor sich hin. Der Barmann rief ihn:
»He, Henri, rück dein Geld raus, ich will schließen! Höchste Zeit!«
»Warte, noch ein letztes Gläschen .«
»Denkst du! Ich hab keine Lust, die ganze Nacht hier zu verbringen. Also zahlst du jetzt, oder nicht?«
»Morgen . ich komme morgen wieder .«
»Das will ich dir raten! Ich warne dich, Freundchen, wenn du morgen nicht bezahlst, verpasse ich dir so eine hier!«
Der Barmann breitete die Hände aus und schlug sie zusammen, als wollte er eine Fliege zerquetschen. Henri zuckte die Achseln, stieß sich von zwei Tischen ab, warf einen Stuhl um, erreichte mühsam die verglaste Tür, prallte, den Kopf voran, dagegen.
»Du solltest dich schämen! Kannst ja nicht mal stehen! Wenn du mir die Tür zertrümmerst, zertrümmere ich dir den Schädel!«
»Ach, du kannst mich mal …«, zischte Henri zwischen seinen kariösen Zähnen.
Er zielte sorgfältig, den Kopf vorgeneigt, ein Auge geschlossen, berechnete seine Route und stürzte auf den menschenleeren Hafen hinaus. Er schoss durch die Tür wie eine Rakete. Ein Auto wich ihm mit wütendem Hupen aus.
Jemand rief ihn:
»He, he, komm mal her!«
Henri drehte sich um die eigene Achse, fand im letzten Augenblick an einem Metallgeländer Halt. Hörte er jetzt schon Stimmen?!
»Komm her, ich hab was zu trinken!«
Was für eine freundliche Stimme! Wenn er nur öfter solche Stimmen hören würde!
Der Barmann zog das Eisengitter herunter, klopfte dem torkelnden Henri auf die Schulter: »Salut, bis morgen!« und verschwand.
Henri blieb allein und seinem Schicksal überlassen im Hafen, und dieses Schicksal schwenkte freundlich eine Literflasche Rotwein, dort hinten, gleich neben dem blauen Lieferwagen.
Henri schwankte darauf zu, als tanze er einen Tango, und erreichte mehr schlecht als recht den Wagen. Au revoir, Henri! Das heißt, nein: Adieu .
Der kleine Mann legte seine Pakete auf dem Tisch ab. Er war völlig erschöpft. Erst hatte er die Blondine rumgeschleppt, dann den Buckligen. Bei dem Durcheinander in seinem winzigen Gärtchen (Backsteine, Planen, Brennholz, Autoteile) würden ein paar Plastiksäcke mehr oder weniger auffallen. Er packte seine Pakete nicht aus, legte die Blondine auf den Tisch. Wirklich nicht schlecht, die Mieze …
Er zog ihr das weiße blutbefleckte Oberteil aus und legte das zerfetzte Fleisch frei. Nette Brüste, aber zu klein. Dann machte er sich über den roten Minirock her, doch sein gieriges Lächeln erstarb sogleich. Diese Blondine steckte zweifelsfrei voller Überraschungen: Sie trug nicht nur kein Höschen - sie war ein Typ! Wütend ohrfeigte sie der kleine Mann.
Bei dem Buckligen gab es wenigstens keine Überraschungen. Der kleine Mann zog den Schraubenzieher heraus, den er ihm ins linke Ohr gerammt hatte, wischte die Hirnteile mit einem Putzlappen ab und nahm sein Nähzeug zur Hand. An die Arbeit! Noch eine schlaflose Nacht. Eine Nacht, wie er sie liebte.
Madeleine wälzte sich schwerfällig im Bett, versuchte, ihre (sommers wie winters) kalten Füße an die brennenden Waden von Marcel zu pressen, der seine Beine angewidert zurückzog.
»Wie gemein du sein kannst!«, stöhnte Madeleine und kniff ihn in den Arm.
Marcel gab keine Antwort, tat so, als würde er schlafen.
Nadja schlief nicht. Sie war mit zwei Freundinnen im Kino gewesen, es war spät, und sie lief schnell.
Nadja lief schnell. Sie lief immer schnell. Eine alte Angewohnheit noch aus der Zeit ihrer Ehe, als sie immer Angst gehabt hatte, von fremden, zudringlichen Männern angesprochen zu werden. Ihre Ehe. Eine ferne, weit zurückliegende Zeit. Manchmal erinnerte sie sich nicht einmal mehr richtig an die Züge von Moussa, ihrem Mann. Sie hatten zu den zweihunderttausend Tuareg-Flüchtlingen gehört, die zwischen 1993 und 1994 aus Mali geflohen waren. Richtung Algerien, dann Frankreich, über eine den Rebellen bekannte Schlepperorganisation.
Es war bald drei Jahre her, dass Moussa auf der Baustelle vom Gerüst gestürzt war. Danach war das totale Chaos ausgebrochen, Geldmangel und die ständige Angst, zusammen mit Momo ins Flugzeug gesteckt zu werden, Richtung Fundamentalismus. Niemals würde sie in die Stille der Wüste zurückkehren, niemals. Sie zog den Lärm der Groß-Stadt vor, das einfache, das moderne Leben. Lieber sterben als zur mageren Herde
Weitere Kostenlose Bücher