Der Puppengräber
es. Es begann schon auf dem Heimweg an dem Montag. Nur stellte Trude zu diesem Zeitpunktnoch den falschen Zusammenhang her. Sie hatte Dieter Kleu vor Augen, als Ben an ihrer Hand zerrte und sich so wüst aufführte, dass sie ihn kaum bändigen konnte. Er wollte partout nicht vom Marktplatz, vom Zelt und den Wagen weg. Immer wieder blieb er stehen wie ein bockiger Esel. Wenn sie ebenfalls stehen blieb, ihm gut zuredete, riss er an ihrem Arm, stemmte sich mit all seiner Körperkraft, und die war damals schon beachtlich, nach hinten und brüllte: «Fein macht!»
Ebenso gut hätte er Trude erklären können, dass ihm Althea Belashi in der gestrigen Vorstellung ausnehmend gut gefallen hatte. Dass er sich ihre Kunstfertigkeit am Trapez und die akrobatischen Darbietungen auf den Ponys unbedingt noch einmal ansehen und auch noch einmal mit ihr reiten wollte. Und dass er im Anschluss daran fest mit einem Kuss auf die Wange rechnete.
Dass sich jede Freundlichkeit und andere nachhaltige Eindrücke unauslöschlich in sein Gedächtnis gruben, dass er nicht verstand, warum ihm die zärtliche Geste beim nächsten Mal verweigert wurde, dass er zu toben begann wie jedes andere Kind, das seinen Willen durchsetzen wollte, hatte Trude bereits mehr als einmal feststellen müssen. Er tobte vielleicht ein wenig intensiver. Aber meistens beruhigte er sich auch rasch wieder. Es gab immer ein Mittel, ihn zu besänftigen.
«Es tut mir leid», sagte Trude. «Das Mädchen ist weg. Es gibt keinen Zirkus mehr. Wir gehen jetzt heim, und wenn du lieb bist, bekommst du ein Eis.»
Er hielt mit seiner Toberei für einen Augenblick inne und starrte sie mit konzentriert gerunzelter Stirn an, als denke er angestrengt über ihren Vorschlag nach. Die Leute, die sich nach ihnen umgedreht hatten, setzten kopfschüttelnd ihren Weg fort. Trude wollte schon aufatmen, da krakeelte er erneut los: «Finger weg! Feinmacht, Finger weg!» Er war völlig außer sich, drosch mit der freien Hand in die Luft und brüllte plötzlich ein Schimpfwort, das Trude bis dahin noch nie von ihm gehört hatte. «Rabenaas!»
Im ersten Moment war Trude nur verblüfft und kam nicht auf den Gedanken, sich zu fragen, wo er das wohl aufgeschnappt haben mochte und warum er das über die Lippen brachte, aber niemals ein «Mama» oder ein simples «ja» oder «nein».
«Jetzt reicht es», sagte sie streng, als die Leute in der Nähe erneut stehen blieben und in gespannter Erwartung zuschauten, ob sie endlich tat, was in so einem Fall getan werden musste. Wären sie daheim gewesen, hätte sie ihm ein Vanilleeis in die Hand gedrückt. Vanilleeis stand ganz oben auf der Liste der Wundermittel, Trude hatte einen Vorrat in der Gefriertruhe. Er musste nur sehen, dass sie den Deckel hob, dann verwandelte er sich innerhalb weniger Sekunden in ein sanftmütiges Lamm.
Sie erwog kurz, die paar Meter zu dem kleinen Kiosk zurückzugehen, um ihm ein Eis zu kaufen. Sonntags hatte es damit funktioniert. Aber einige hätten wohl gedacht, sie sei unfähig, ihn zu bändigen. Am Ende sprach es sich herum. Trude holte zu einem mächtigen Schlag aus, bremste kurz vor seiner Wange unauffällig ab und wischte ihm die flache Hand übers Gesicht.
«Rabenaas!», schrie er noch einmal und boxte sie mit der Faust in den Magen. Es war nur ein leichter Schlag, den niemand gesehen hatte. Aber zusätzlich hob er einen Fuß, um sie vors Schienbein zu treten. Auch etwas, das er von Dieter Kleu kannte.
«Wag es», zischte Trude, «dann kriegst du richtig Haue.»
Sekundenlang starrte er ihr mit verkniffener Miene ins Gesicht, senkte den Fuß wieder und sagte: «Kalt.»Obwohl sie auch dieses Wort zum ersten Mal von ihm hörte, glaubte Trude, es richtig zu interpretieren, weil sie ihn jedes Mal warnte: «Nun beiß doch nicht so rein. Das ist viel zu kalt.»
«Nein», sagte sie bestimmt. «Jetzt kriegst du kein Eis. Ich hätte dir eins gekauft, aber du bist ja nicht lieb. Wenn du jetzt fein mit mir nach Hause gehst, gebe ich dir eins. Aber erst, wenn wir im Haus sind. Jetzt sei lieb.»
Da ließ er sich endlich, wenn auch widerstrebend, weiterziehen. Doch Trude kam nicht dazu, ihr Versprechen sofort einzulösen. Kaum auf dem Hof angekommen, stürzte er sich in dumpfer Wut auf die unschuldige alte Puppe.
«Fein macht!», schrie er und ließ sie noch einmal kurz an den Füßen schwingen, wie er es am Abend zuvor Jakob gezeigt hatte. Dann drosch er unvermittelt mit der Faust auf den Puppenkopf ein und riss das Kleid von
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