Der Puppengräber
dem Zelluloidkörper. Danach zerrte er an einem Puppenbein, bis er es in der Hand hielt. Das zweite Bein folgte. Alles, was er abgerissen hatte, warf er Trude vor die Füße und schrie bei jedem Teil: «Rabenaas, kalt!»
Es dauerte noch ein Weilchen bis zum Begreifen. Nicht, dass Trude dumm gewesen wäre oder blind. Doch um auf solch einen Verdacht zu kommen, brauchte es mehr als einen schmutzigen Schlafanzug, ein wütendes Kind und zwei neue Worte.
Da es keine Zeugen gab, sammelte Trude die Einzelteile der Puppe auf und ließ sie im Herd verschwinden. Dann ging sie in den Keller, er folgte ihr. Seine Miene hellte sich auf, als sie den Deckel der Gefriertruhe hob. Er nahm das Eis in Empfang, griff nach Trudes Hand und zog sie hinaus auf den Hof, durch die Scheune, in den Garten.
Daneben – hinter dem Anwesen von Otto Petzhold und direkt an die Rückseite seiner Scheune grenzend –lag die Apfelwiese, so genannt wegen der drei Dutzend Bäumchen. Keines war größer als ein ausgewachsener Mann. Auch aus dem oberen Teil der breit wuchernden Kronen konnten die Früchte ohne Hilfe einer Leiter gepflückt werden. Es war allen Kindern in der Umgebung strikt untersagt, einen Fuß auf die Wiese zu setzen. In den zwanziger und dreißiger Jahren war dort Sand gezogen worden. Acht Schächte hatte es gegeben, bis zu zwölf Meter tief, an den Enden glockenförmig erweitert. Pütz sagte man im Ort dazu.
Jakobs Vater war damals von der Obrigkeit befohlen worden, die Schächte aufzufüllen, sobald ihre Ergiebigkeit nachließ. Mit einigen hatte er das getan, nicht mit allen. Zwei oder drei waren mit der Zeit von alleine eingesunken und bildeten tiefe, kraterförmige Dellen, um die man besser einen Bogen machte, weil da immer noch leicht etwas nachrutschen konnte. Es gab auch noch einen offenen Schacht, der wie ein umgestülpter Trichter in die Erde reichte. Was da hineingeriet, war für alle Zeiten aus der Welt.
Ben war ebenso wie allen anderen Kindern verboten, sich alleine zwischen den Bäumchen herumzutreiben. Das wusste er auch. Am Rand der Wiese machte er halt, zeigte zu dem offenen Schacht hinüber und sagte: «Finger weg.»
«Ja», sagte Trude. «Nicht auf die Wiese laufen. Bleib schön im Garten. Wenn du lieb bist, bekommst du heute Abend eine neue Puppe.»
Er setzte sich am Rand der Wiese auf den Boden und aß sein Eis. Bevor Jakob abends heimkam, holte Trude ihn herein. Da saß er immer noch auf dem gleichen Fleck und bekam zur Belohnung die versprochene Puppe von Anitas Bett, mit der er friedlich spielte, als Jakob die Küche betrat.
An dem Abend glaubte Trude, es habe sich um einen seiner üblichen Ausbrüche gehandelt. Aber noch war der Zirkus im Ort. Erst Ende der Woche räumten sie den Marktplatz. Bis dahin liefen die Artisten durch die Straßen, klingelten an sämtlichen Türen, zeigten Fotos von Althea Belashi und stellten Fragen, auf die sie keine Antworten erhielten.
Sie kamen auch in die Bachstraße. Der junge Mann, der als Fänger am Trapez gearbeitet hatte, stand donnerstags plötzlich hinter Trude in der Küche. Das Tor war wieder einmal nicht verschlossen gewesen. Trude erschrak, weil Ben im Hof spielte. Ein unverschlossenes Tor verführte ihn unweigerlich zu einem Ausflug ins Dorf.
Ohne den Mann zu beachten, rannte sie hinaus und kam gerade im rechten Moment. Geöffnet hatte Ben das Tor bereits. Trude schloss es wieder, griff nach seinem Arm und zerrte ihn hinter sich her in die Küche. Der Artist stand beim Tisch und schaute ihr abwartend entgegen.
«Setzen Sie sich doch», sagte Trude geistesabwesend, hielt gewohnheitsmäßig Bens Hände unter den Wasserhahn und schimpfte los: «Nicht auf die Straße laufen! Wie oft habe ich dir das schon gesagt?» Dem Schälmesser im Spülbecken, mit dem sie den Wirsingkohl für das Abendessen geschnitten hatte, schenkte sie in dem Moment keine Beachtung.
Der Artist zog eine Fotografie aus seiner Hemdtasche, hielt sie ihr entgegen und erklärte sein Anliegen. Trude wischte ihre Hände am Kittel ab, nahm das Bild, warf einen Blick darauf und drehte es vor Verlegenheit mehrfach in den Händen, bevor sie es auf den Küchentisch legte.
«Ich hab davon gehört», sagte sie. «Es tut mir auch sehr leid. Aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen. Ichhab das Mädchen nur bei der Vorstellung gesehen. Am Sonntag. Vielleicht erinnern Sie sich. Ich war mit ihm da. Sie hat ihn reiten lassen. Es hat ihm sehr gut gefallen.»
Während sie sprach, zeigte sie kurz auf Ben.
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