Der Puppengräber
Wie kannst du glauben, die Kratzer auf seinen Händen wären vom Stacheldraht gewesen? Jeder Mensch mit ein bisschen Verstand wird es anders sehen. Er hat dir eine Handtascheauf den Tisch gelegt. Da sollte man eher annehmen, dass die Kratzer von Fingernägeln stammten, die sich zur Wehr setzten.»
Der Kopf füllte sich mit widerwärtigem Summen und Brausen, während sie ihre Hände an der Schürze abwischte und langsam zur Tür ging. Kein Engel und kein Teufel, nur zwei Beamte in Uniform standen davor. Trude starrte sie an, sah in ihrer Panik nur das feiste Gesicht von Wilhelm Ahlsen und verstand im ersten Augenblick gar nicht, was die Polizisten von ihr wollten.
Aber es war völlig harmlos, reine Routine. Sie hatten nur ein paar Fragen, die zu diesem Zeitpunkt vielen Einwohnern an der Bachstraße und den Anliegern im freien Feld gestellt wurden. Ob sie etwas bemerkt hatten in der Nacht, als Marlene Jensen verschwand?
«Nein, überhaupt nichts», sagte Trude.
Wer außer ihr noch im Haus lebte, wollten die Beamten wissen.
«Nur mein Mann und mein Sohn», sagte Trude und fügte mit einigermaßen fester Stimme an: «Aber die sind jetzt nicht hier.»
Eine glatte Lüge. Ben lag auf seinem Bett und schlief. Er war zum Frühstück heimgekommen und seitdem oben. Doch das Lügen für ihn war ihr mit der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen und gehörte zum Alltag wie das Füttern der beiden Schweine.
Den Polizisten erschien die Abwesenheit zweier Männer als selbstverständlich für einen Montagvormittag. Sie wollten auch nur wissen, ob die beiden vielleicht etwas …
«Nein», fiel Trude dem Sprecher ins Wort. «Das hätten sie mir gesagt. Wir haben es ja in der Zeitung gelesen und reden seitdem kaum noch über etwas anderes. Aber wir haben in der Nacht alle geschlafen. Wir sindauch früh zu Bett gegangen. Wir gehen immer früh zu Bett.»
Und auch sonst nichts Auffälliges?
«Nein, überhaupt nichts», erklärte Trude noch einmal. «Was soll einem auffallen, wenn man so einsam wohnt? Manchmal höre ich es, wenn ein Auto rausfährt zum Bendchen. Da treiben sich die jungen Leute ja immer herum. Aber wenn der Fernseher läuft oder das Radio, kriege ich das nicht mit. Ich habe im Dorf gehört, Marlene Jensen wäre zu zwei fremden Männern ins Auto gestiegen. Haben sich die beiden denn immer noch nicht gemeldet?»
Darauf bekam sie keine Antwort. Als die beiden Polizisten wieder vom Hof fuhren, setzte sie sich an den Küchentisch und wartete, bis der Herzschlag sich beruhigte. In den Ohren brauste es weiter, der gesamte Schädel war gefüllt mit einem Druck, als ob er bersten wolle.
Kurze Zeit später kam Ben in die Küche. Auf seiner linken Wange zeichnete sich das Muster der Decke ab. Er setzte sich an den Tisch. Trude schnitt ihm die Bratwurst in mundgerechte Stücke, wusch das Messer ab, verschloss es wieder und setzte sich zu ihm. Selbst ohne Appetit, schaute sie zu, wie er sich über das Essen hermachte.
«Eben war die Polizei hier», sagte sie. «Sie wollten wissen, ob wir etwas gesehen oder gehört haben.» Sie atmete zitternd durch, während er in Windeseile einen Happen nach dem anderen zum Mund führte. «Wenn du mir nur einmal sagen könntest, wo du die Sachen findest», fuhr sie fort. «Die kleine Tasche vor ein paar Wochen, weißt du noch? Ich hab mich sehr gefreut, als du sie mir gebracht hast. Das hast du fein gemacht. Du hast die Tasche doch nur gefunden, oder?»
Er nickte. Er nickte auf viele Fragen, und auf vieleschüttelte er den Kopf. Meist hing es davon ab, in welchem Ton man ihn ansprach. Fragte man sanft, stimmte er zu. Klang es schroff, lehnte er ab. Verlassen konnte man sich nicht auf seine Reaktion, das wusste Trude.
Als der Teller leer war und er sich erheben wollte, legte sie ihm eine Hand auf den Arm. «Bleib sitzen und pass gut auf», verlangte sie und begann, ihn nach Marlene Jensen und Svenja Krahl auszufragen. Ob er die Mädchen gesehen hatte, wo, wann, allein oder in Begleitung, mit wem, was war dann geschehen, wo waren sie jetzt? Aber es war wie damals mit Hilde Petzholds Katze. Er sagte nur mehrfach: «Finger weg.»
Trude nickte schwermütig. «Ja, Finger weg. Du darfst die Mädchen nicht anfassen. Das mögen sie nicht. Du darfst sie auch nicht so erschrecken, wie du es mit Annette und Albert gemacht hast.»
Er wurde unruhig, wollte nicht länger sitzen. «Freund», sagte er.
Trude schüttelte den Kopf. «Du armer Tropf. Albert war nie dein Freund. Er hat nur einen
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