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Der Puppengräber

Der Puppengräber

Titel: Der Puppengräber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Dass er das Schälmesser bereits in der Hand hielt, sah sie nicht.
    Aber er sah, dass sie etwas auf den Tisch gelegt hatte. Neugierig kam er näher. «Finger weg», sagte Trude noch, da hatte er die Fotografie schon an sich gerissen.
    «Fein macht», murmelte er in der Freude des ersten Wiedererkennens. Und plötzlich begann er, in wilden Sprüngen um den Tisch zu hüpfen, hielt sich das Foto vor und hieb mit dem Messer Kerben in die Luft, als wolle er das Bild zerhacken.
    Trude hetzte hinter ihm her, bekam ihn zu fassen, zerrte ihm das Messer und die Fotografie aus den Fingern. Sie schüttelte ihn und schimpfte erneut: «Du weißt doch, dass du keine Messer nehmen darfst. Nachher hast du dich geschnitten, und dann gibt es Geschrei.»
    Kaum hatte sie ihn losgelassen, sprang er auf den Artisten zu, boxte ihn mit der Faust in den Magen und schrie dabei: «Rabenaas!» Dann ließ er sich auf den Boden fallen. Und vor dem Herd lag die neue Puppe. Er schnappte sie, wälzte sich hin und her, kam wieder auf die Beine, drosch die Faust gegen den Puppenkopf und schrie erneut: «Rabenaas! Kalt!» Dann zerrte er am Puppenkleid, bis er den ersten Fetzen in der Hand hielt. Er warf ihn dem Mann vor die Füße, riss der Puppe ein Bein aus und schleuderte es zu Boden.
    «Ja, bist du des Teufels!», schrie Trude. «Warum machst du die auch kaputt?»
    Dann entschuldigte sie sich bei dem Artisten. «Er ist manchmal ein bisschen wild. Aber er meint es nicht böse. Ich hoffe, er hat Ihnen nicht wehgetan.»
    «Nein», sagte der Mann, nahm die Fotografie wieder an sich und verabschiedete sich rasch.
    Und Trude stand da. In ihrem Hirn lief die Szene noch einmal ab, vermischte sich mit Sequenzen seiner Toberei auf der Straße, erreichte die Nacht zum Montag, den verdreckten Schlafanzug und Thea Kreßmanns Stimme, die in falscher Anteilnahme Renate Kleu bedauerte. In dem Moment schwappte die Panik wie ein Bottich voll kochenden Wassers durch sämtliche Glieder.
    «Um Gottes willen», flüsterte Trude und starrte Ben an. «Bruno hat dem Mädchen wirklich etwas getan. Und du hast es gesehen, nicht wahr? Gott steh uns bei. Du darfst das nie tun, nie, hörst du. Es ist sehr böse, wenn man einem Mädchen wehtut. Jetzt sag schon! Hast du gesehen, dass Bruno dem Mädchen etwas angetan hat?»
    Natürlich sagte er nichts. Trude hatte kaum noch Atem, spürte, wie ihre Augen feucht wurden, und wischte sich mit einem Handrücken über die Wangen, während sie stammelte: «Was mache ich denn jetzt mit dir?» Dann fiel ihr ein, dass es auch noch andere Konsequenzen haben konnte als seinen Nachahmungstrieb. «Weiß Bruno, dass du ihn gesehen hast? Hat er dich gesehen?»
    Ihre Stimme wurde lauter und hektischer. Sie griff nach seinen Schultern, drückte sie und verlangte beschwörend: «Jetzt sag doch endlich etwas. Sag einmal ja oder nein.»
    Er schaute sie nur an, schien verwirrt von ihrer Aufregung und bewegte den Kopf und die Schultern, wie er es manchmal tat, wenn ihm etwas unangenehm wurde oder er sich zu langweilen begann.

21.   AUGUST 1995
    Um die Mittagszeit fuhr ein Streifenwagen hinaus zum Schlösser-Hof. Trude stand in der Küche und registrierte das näher kommende Motorengeräusch zusammen mit dem Brutzeln aus der Pfanne. Sie nahm an, es sei Jakob, obwohl er nur selten über Mittag heimkam. Eigentlich nur, wenn etwas Besonderes anlag. Aber das tat es wohl.
    Ein Mittel aus der Apotheke. Dass Jakob so etwas vorschlagen konnte. Es musste schlimm sein für ihn. Doch für Trude war es schlimmer. Da waren so viele Dinge, über die sie niemals ein Wort verloren hatte. Jakob hatte genug um die Ohren. Da musste sie ihm den Kopf nicht schwer machen mit einem alten Knochen, einem schmutzig-blutigen Unterhöschen und einer kleinen Handtasche, die Ben irgendwo draußen gefunden hatte.
    Vielleicht hatte Heinz Lukka der Polizei inzwischen mitgeteilt, dass er schon im Juli ein Mädchen hatte schreien hören. Trude hatte das gestrige Aufgebot noch vor Augen, wälzte hilflose, ohnmächtige Gedanken im Kopf, während sie die Bratwurst in der Pfanne drehte. Dass der Wagen im Hof hielt, bemerkte sie nicht.
    Als die Türklingel anschlug, zuckte sie heftig zusammen. Sie schaute zum Fenster, sah den Streifenwagen und war überzeugt, dass Satan persönlich erschien, um eine schwarze Seele abzuholen. Oder ein Engel der Gerechtigkeit, um blinde Liebe und den Mutterinstinkt zu verfluchen. «Wie konntest du vor fünfzehn Jahren schweigen? Wie kannst du jetzt schweigen?

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