Der Rabbi schoss am Donnerstag
gepackt und wäre kurzerhand heimgefahren? Aber mal angenommen, er hätte keine Eltern gehabt? Seine Eltern wären tot gewesen? Oder angenommen, seine Eltern hätten ihm erklärt, sie hätten diesem Mann viel zu verdanken, und er dürfe ihn unter gar keinen Umständen verärgern? Ironisch lächelnd stellte er fest, dass auch er sich eine Menge von Ellsworth Jordon gefallen ließ. Aber das war natürlich rein geschäftlich.
In der Ferne sah er die Lichter einer Tankstelle und beschloss, anzuhalten, statt sich darauf zu verlassen, dass zu dieser späten Stunde noch eine andere offen hatte. Er bog ab und hielt erst weit hinter den Zapfsäulen. Dann ging er ins Büro, reichte dem Mann einen Dollarschein und fragte: «Könnte ich bitte Wechselgeld haben? Ich muss telefonieren.»
«Der Münzfernsprecher ist kaputt. Die Telefongesellschaft repariert ihn, und am nächsten Tag ist er schon wieder hin. Immer kommen nachts, wenn wir geschlossen haben, irgendwelche Jugendlichen und knacken sie auf, um das Geld rauszuholen, oder einfach so aus reinem Übermut.»
«Gibt es auf dieser Seite der Straße vor dem Tunnel noch eine andere Telefonzelle?»
«Ich habe einen Apparat im Büro. Den können Sie benutzen.» Er ging voran in sein Büro, drückte die Kein-Verkauf-Taste auf der Registrierkasse und reichte Gore das Kleingeld für seinen Dollar. Gore wählte und pfiff, während er wartete, tonlos vor sich hin. Als sich jemand meldete, sagte er: «Molly? Hier Lawrence Gore. Wie geht’s mit dem Bericht?»
«Tja, also, ich habe alles wieder und wieder nachgerechnet, aber die beiden Endsummen stimmen nicht überein. Aber ich hab ihn trotzdem abgetippt.»
«Haben Sie auch bestimmt alle Posten, die ich mit ‹A› markiert habe, in die eine Spalte gesetzt, und die mit ‹P› in die andere?»
«Hm-hm. Ich hab’s immer wieder nachgeprüft.»
«Dann muss ich einen Posten falsch markiert haben.»
«Vielleicht könnte ich Herb bitten, dass er es sich ansieht, und …»
«O nein, auf gar keinen Fall, Molly!», protestierte er rasch. «Das ist strengstes Bankgeheimnis.»
«O ja, ich dachte nur … Nein, ich werde es natürlich nicht tun. War Mr. Jordon sehr ärgerlich, dass Sie den Bericht nicht mitgebracht haben?»
«Das kann man wohl sagen. Ich dachte, er kriegt einen Schlaganfall. Meine Rettung war, dass ich ihn darauf hinwies, der Tag ende erst um Mitternacht. Jetzt hoffte ich, dass ich zeitig genug zurück sein könnte, um ihn abzuholen und rüberzubringen, aber als ich die Instruktionen des Museums noch mal durchlas, hab ich gesehen, dass ich mit den Leuten da die ganze Liste der Ausstellungsstücke durchgehen und bestätigen muss. Das kann ziemlich lange dauern, deswegen werde ich’s also wohl nicht mehr bis Mitternacht schaffen.»
Sie merkte sofort, dass er sich Sorgen machte. «Ich könnte ihm den Bericht jetzt gleich rüberbringen», erbot sie sich. «Nur, dass er eben nicht ganz stimmt.»
«Ach ja, diesen Fehler hat er bestimmt sofort entdeckt. Der wird mich deswegen ganz schön zur Schnecke machen, aber … Nein, unmöglich, das kann ich nicht von Ihnen verlangen. Wo er doch so … Nein, Sie müssten ja ganz allein hinfahren und …»
«Glauben Sie etwa, ich habe Angst vor ihm?»
Er musste lächeln über ihre typisch frauenrechtlerische Reaktion und warf einen Blick auf die große Wanduhr. «Nun ja, wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht …»
«Ganz und gar nicht. Ich freue mich, wenn ich helfen kann.»
«Sie sind ein Schatz!»
«Ich tu’s nur für die Bank», sagte sie streng.
«Selbstverständlich.»
19
Mrs. Mandell erwachte vom Schrillen des Telefons. Nicht, dass sie geschlafen hätte, denn sie behauptete, sie schlafe niemals richtig, sie döse nur so vor sich hin. Aber es hatte einen Traum unterbrochen – na ja, nicht eigentlich richtig einen Traum, denn Träume hatte man nur, wenn man schlief. Eher eine Art Phantasievorstellung, die sie hatte, wenn sie vor sich hindöste. Obwohl die Einzelheiten variierten, war das Grundthema jedoch immer dasselbe: Wie es wäre, wenn SIE (so sprach sie immer von ihrer Schwiegertochter) nicht mehr da wäre. Zuweilen beinhaltete dieser Traum die Art und Weise ihres Dahinscheidens: tödlicher Unfall oder Ertrinken, wobei ihr Herbert bei dem Versuch, sie zu retten, überwältigenden Mut bewies. Selbstverständlich war er dann gramgebeugt, aber das brachte ihn nur seiner Mutter näher; nach einer Weile überwand er dann seinen Schmerz, obwohl die Erinnerung an die
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