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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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einmal ansehen.« Sie zog ein hektographiertes Blatt aus der Tasche und legte es auf den Tisch, dann verließ sie die Kammer.
    Hänger gab es keine. Leslie hängte ihre Kleider über die Stuhllehne, setzte sich und wartete. Der Sitz war sehr glatt. Sie nahm den Zettel zur Hand und studierte ihn.
    Gelobt seist du, Gott unser Herr, Herr der Welt, der uns geheiligt hat durch seine Gebote und uns geboten hat das Tauchbad.
    Gelobt seist du, Gott unser Herr, Herr der Welt, der uns das Leben gegeben und erhalten hat und uns diese große Stunde erreichen ließ.
    Amen.
    Während sie noch die broches memorierte, kam Mrs. Rubin zurück und zog eine kleine Nagelschere aus ihrer Schürzentasche. »Zeigen Sie Ihre Hände«, sagte sie.
    »Ich hab die Nägel schon kurz geschnitten«, sagte Leslie und zeigte sie Mrs. Rubin voll Stolz; aber die schnipselte trotzdem noch ein winziges Stückchen von jedem Nagel. Dann entfaltete sie ein frisches Leintuch, breitete es über Leslies Nacktheit, drückte ihr Seife und Badetuch in die Hand und führte sie in einen benachbarten Duschraum mit sieben Kabinen.
    »Wasch dich, mein kind«, sagte sie.
    Leslie hängte das Leintuch an einen Wandhaken und wusch sich, obwohl sie am Abend zuvor gründlich geduscht und erst zwei Stunden zuvor nochmals lange in der Badewanne gesessen hatte. Durch eine zweite Tür konnte sie, während sie duschte, ein Bassin sehen, dessen ruhiges Wasser, schwer wie Blei, unter dem gelben Licht einer nackten Glühbirne glänzte. Rabbi Gross hatte ihr in einem seiner Vorträge erklärt, daß die Juden das rituelle Tauchbad schon seit Jahrtausenden gepflogen hatten, ehe Johannes der Täufer diese Zeremonie übernommen hatte. Ursprünglich hatte man in Seen und Flüssen gebadet, denn das Wasser der mikwe mußte natürliches Wasser sein.
    Heute, da die mikwe in Häusern untergebracht war - dem größeren Bedürfnis des modernen Menschen nach Zurückgezogenheit folgend -, sammelte man Regenwasser in Trögen auf den Dächern und leitete es in ein gekacheltes Bassin. Dieses stehende Wasser wurde schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit schal und unappetitlich. Deshalb gab es neben dem Regenwasserbassin ein zweites, das dauernd mit Frischwasser aus der städtischen Wasserleitung versorgt und auf angenehme Temperatur gebracht wurde. jedesmal, sobald dieses zweite Bassin vollgelaufen war, wurde ein kleiner Stöpsel in der Trennwand zwischen den beiden Becken herausgezogen, so daß sich die zweierlei Wasser für den Bruchteil einer Sekunde miteinander vermischen konnten. Das, versicherte Rabbi Gross seiner Schülerin, heilige das Leitungswasser, ohne seinen Bakteriengehalt zu erhöhen. Trotzdem betrachtete Leslie, während sie duschte, den Wasserspiegel voll Mißtrauen; sie mußte sich eingestehen, daß sie die Sache nicht werde durchstehen können, sollte das Wasser einen irgendwie schmutzigen Eindruck machen.
    Mrs. Rubin erwartete sie schon, als sie aus der Kabine kam. Diesmal holte sie aus ihrer Schürzentasche einen kleinen Schildpattkamm hervor.
    Sie ließ ihn langsam durch Leslies lange Haare gleiten und zog ein wenig, wenn er sich in einem Knoten verfing. »Nichts darf das Wasser von Ihrem Körper abhalten«, sagte sie. »Heben Sie die Arme.«
    Leslie gehorchte demütig, und die Frau untersuchte ihre ausrasierten Achselhöhlen. »Kein Haar«, sagte sie, wie ein Kaufmann, der Inventur macht. Dann, mit einem eindeutigen Hinweis ihres Zeigefingers, reichte sie Leslie den Kamm.
    Einen Augenblick lang verharrte Leslie ungläubig, keiner Bewegung mächtig. »Muß das wirklich sein?« fragte sie hilflos.
    Mrs. Rubin nickte. Leslie handhabte den Kamm, ohne hinzusehen, und spürte das Blut in ihre Wangen und die Tränen in ihre Augen steigen.
    »Kommen Sie«, sagte die Frau schließlich und hängte ihr das Leintuch wieder um die Schultern.
    Über einen schwarzen Kautschukläufer ging es vom Duschraum zum Bassin. Auf der obersten der drei Stufen, die ins Wasser führten, ließ Mrs. Rubin das Mädchen warten und ging zur Tür am anderen Ende des Beckens. Sie öffnete und steckte den Kopf hinaus. Leslie spürte einen Luftzug von der Tür her, die in den Hinterhof der Synagoge führte.
    »Jetzt«, rief Mrs. Rubin. »Sie ist fertig.«
    Leslie hörte die Stimmen der Rabbiner, die sich auf jiddisch unterhielten, während sie sich dem Eingang näherten. Mrs. Rubin ließ die Tür nur einen Spaltbreit offen und kam zu dem Mädchen zurück.
    »Wollen Sie den Zettel mit den Gebeten haben?« »Ich

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