Der Rabbi
noch lange nachdem sie eingeschlafen war. Schließlich nahm er seine Hand von ihrem Leib, holte eine Decke aus dem Schrank, deckte sie zu und wickelte ihre Füße gut ein. Dann fuhr er zurück nach Queens und packte seine Reisetasche.
Am nächsten Morgen teilte er seinen Eltern beim Frühstück mit, daß er dringender Gemeindeangelegenheiten wegen seinen Urlaub vorzeitig beenden müsse. Abe fluchte und bot ihm Geld an. Dorothy jammerte und packte ihm eine Schuhschachtel voll mit Hühnersandwiches und füllte ihm eine Thermosflasche mit Tee, während sie sich mit der Schürze die Augen wischte.
Er verließ die Stadt in südwestlicher Richtung und fuhr in gleichmäßigem Tempo, verzehrte ein Sandwich, wenn er hungrig wurde, hielt aber nicht an. Erst um vier aß er in einem Lokal an der Straße zu Mittag und rief Leslie an.
»Wo bist du?« fragte sie, nachdem das Klimpern der letzten Münze verklungen war.
» In Virginia. Staunton, glaub ich.«
»Läufst du davon?«
»Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« »Was gibt's da nachzudenken?«
»Ich liebe dich«, sagte er heftig. »Aber ich bin gern, was ich bin. Ich weiß nicht, ob ich das aufgeben kann. Es ist mir sehr viel wert.«
»Ich liebe dich«, sagte sie. Dann schwiegen sie beide. »Michael?«
»Ja, ich bin da«, sagte er zärtlich.
»Wenn du mich heiratest, muß das unbedingt bedeuten, daß du deinen Beruf aufgibst?«
»Ich glaube doch. Sicher.«
»Bitte, tu noch gar nichts, Michael. Warte erst einmal.«
Wieder Schweigen. Schließlich sagte er: »Willst du mich nicht heiraten?«
»Ich will. Mein Gott, wenn du wüßtest, wie sehr ich will! Aber mir sind da ein paar Ideen gekommen, die ich mir überlegen muß. Frag mich nicht und tu jetzt nichts Voreiliges. Warte ein wenig und schreib mir jeden Tag, und ich werde das auch tun. Gut?«
»Ich liebe dich«, sagte er. »Ich ruf dich Dienstag an. Um sieben.«
»Ich liebe dich.«
Am Montagvormittag schnitt Leslie die Zeitungen von Boston und von Philadelphia aus und ging dann ins Redaktionsarchiv, wo sie sechs dicke braune Umschläge mit der Aufschrift JUDENTUM an sich nahm. Sie studierte die darin befindlichen Ausschnitte während ihrer Mittagspause, und abends nahm sie eine Auswahl davon, mit einem Gummiband zusammengehalten, in ihrer Handtasche mit nach Hause. Am Dienstagvormittag schnitt sie die Zeitungen von Chicago aus und bat dann Phil Brennan, ihren Chef, ihr zur Erledigung einiger persönlicher Angelegenheiten ein paar Stunden freizugeben.
Er nickte zustimmend, und sie nahm Hut und Mantel und fuhr im Aufzug hinunter. Am Times Square wartete sie unter dem Plakat, das wirkliche Rauchringe ausstößt, studierte die Gesichter und versuchte zu erraten, welcher ja und welcher nicht, bis der Broadway-Bus kam, und dann fuhr sie stadtauswärts bis zu dem Haus, in dem sich die komisch aussehende kleine jüdische Kirche - nein, Synagoge befand.
23
Max Gross betrachtete das elegant gekleidete Mädchen, das so schlanke Beine und so unverschämte amerikanische Augen hatte, mit einem heftigen Gefühl des Ärgers. Nur viermal während seiner ganzen Amtszeit in Schaarai Schomayim hatten gojim ihn aufgesucht mit der Bitte, sie zu Juden zu machen. jedesmal, so überlegte er, war diese Bitte so vorgebracht worden, als sei er ein Mensch, der mit einer Handbewegung die Fakten ihrer Geburt verändern und zu Rauch auflösen könnte, was sie gewesen waren. Nie hatte er sich in der Lage gefühlt, die Konversion vorzunehmen.
»Was finden Sie an uns Juden, daß Sie wünschen, zu uns zu gehören?« fragte er abweisend. »Wissen Sie nicht, daß Juden der Verfolgung und der Verlassenheit ausgeliefert sind; daß wir als einzelne von den Heiden verachtet werden und als Volk in alle Winde zerstreut sind?«
Leslie stand vor ihm und griff nach Handschuhen und Tasche. »Ich habe nicht erwartet, daß Sie mich annehmen«, sagte sie und war schon im Begriff, ihren Mantel anzuziehen.
»Warum nicht?«
Die Augen des alten Mannes waren hell und durchdringend wie die ihres Vaters. Bei dem Gedanken an Reverend John Rawlings verspürte sie Erleichterung darüber, daß dieser Rabbiner sie wegschickte. »Weil ich nicht glaube, daß ich wie eine Jüdin fühlen könnte, nicht, wenn ich tausend Jahre alt würde«, sagte sie. »Es ist unvorstellbar für mich, daß irgend jemand die Absicht haben könnte, mir ernstlich etwas zuleide zu tun, meine künftigen Kinder zu töten, mich auszusperren von der gemeinsamen Welt. Ich muß gestehen, ich habe
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