Der Rabbi
das die Kundschaft zu Schuldnern macht.
Eines unserer Gemeindemitglieder ist Inhaber einer Zeitung, die jedermann mit Miss, Missus oder Mister tituliert-es sei denn, er oder sie sei farbig.
Die gesamte Gemeinde benützt eine Autobuslinie, in deren Fahrzeugen Neger die Rücksitze einnehmen oder stehen müssen, während in den vorderen Abteilen noch Sitze frei sind.
Diese meine Gemeinde lebt in einer Stadt, in deren Negerviertel viele der vermieteten Häuser aus Gesundheitsgründen abgerissen und neu gebaut werden sollten.
Sie unterstützt ein Erziehungssystem, das Negerkinder in elende Schulen verbannt - Schulen, in denen kein aufgeweckter Verstand sich entwickeln kann.«
Er machte eine Pause.
»Was, zum Teufel, soll das alles?« sagte Sunshine Janes zum Sheriff.
»Wir sind heute hier zusammengekommen, um zwei hervorragende Bürger dieser Stadt für ihre Brüderlichkeit auszuzeichnen«, fuhr Michael fort. »Aber steht es uns zu, solche Auszeichnungen zu verleihen?
Durch die Verleihung implizieren wir, daß wir selbst in einem Zustand der Brüderlichkeit leben.
Ich sage euch aber in ernster Sorge, daß dem nicht so ist. Und ich glaube nicht, daß wir die Brüderlichkeit anderer richtig zu erkennen und anzuerkennen imstande sind, solange es uns nicht gelingt, sie in uns selbst zu verwirklichen.
Ich begrüße die Absicht, in der wir uns heute hier zusammengefunden haben. Aber weil dieses Unternehmen auf die größte Gefahr verweist, die unseren menschlichen Seelen in den kommenden Tagen und Jahren droht, sehe ich mich zu ernster Warnung gezwungen.
Solange wir nicht fähig sind, einen Neger anzuschauen und einen Menschen zu sehen, tragen wir alle das Zeichen Kains.
Es kann keine Brüderlichkeit geben, solange wir nicht wirklich, in unserem tatsächlichen Handeln, jedes Menschen Bruder sind, sagt Dostojewskij.«
Zwei Dinge nahm er wahr, als er die bema verließ: den Ausdruck in Richter Boswells Augen und den lauten, einsamen Applaus seiner Frau, der ihm wie ein Klangsignal den Weg nach Hause wies.
Zwei Abende später durchbrachen Ronnie und Sally Levitt die Mauer des Schweigens, mit der die Gemeinde die Kinds umgeben hatte.
»Ich muß zugeben«, sagte Ronnie Levitt, »daß ich bis vor ein paar Stunden die Meinung aller anderen geteilt habe. Schließlich hab ich diese verdammten Auszeichnungen mit meinem eigenen Geld gekauft und bezahlt. Sie dürfen nicht vergessen, daß Cypress nicht New York ist. Und es ist auch nicht Atlanta oder New Orleans. In solchen großen Städten kann man vielleicht die Leute vor den Kopf stoßen und trotzdem durchkommen. Aber hier? Wenn wir uns hier von der Mehrheit absondern, können wir gleich unsere Geschäfte zusperren. Und wir werden nicht zugeben, daß Sie unsere Existenz ruinieren.«
»Das hab ich auch nicht von Ihnen erwartet, Ronnie«, sagte Michael.
»Hören Sie zu. Ich nehme an, daß sich die Aufregung legen wird, wenn Sie nur ein bißchen geschickt sind. Ich bin, im Gegensatz zu einigen von unsren Leuten, nicht der Meinung, daß Sie sich entschuldigen sollen. Das würde die Dinge nur schlimmer machen.
Wir werden einfach privat erklären, daß Sie jung sind und aus dem Norden kommen und daß Sie von nun an Ihre Zunge besser im Zaum halten werden; und damit wird die ganze Geschichte schließlich einschlafen.«
»Nein, Ronnie«, sagte Michael freundlich. Sally Levitt brach in Tränen aus.
Sie ließen fast alles zurück und nahmen nur leichtes Gepäck mit.
»Es wäre zu mühsam, die ganze Strecke im Auto zu fahren«, sagte Michael. Sie hatten etwas Geld gespart, und Leslie war einverstanden. So fuhren sie also im Wagen nach Augusta und flogen von dort nach New York.
Rabbi Sher seufzte, nachdem er die Geschichte gehört hatte. »Wie schwer Sie doch uns allen das Leben machen«, sagte er. »Wenn Sie wenigstens unrecht hätten!« Er untersagte Michael, seine Unterrichtstätigkeit wiederaufzunehmen. »Wenn Sie nicht achtgeben, werden Sie lebenslang kleinen Kindern Hebräischunterricht geben«, sagte er. »Und wie entsetzlich friedlich wäre dann jedermann außerhalb Ihres Klassenzimmers.«
Die Vorverhandlungen dauerten drei Wochen, und schließlich flog Michael nach Kalifornien, um dort eine Gastpredigt zu halten. Er bekam den Posten als Rabbiner am Tempel Isaiah in San Francisco.
»Dort unten sind sie alle Nonkonformisten, und es ist schließlich fast fünftausend Kilometer von hier«, sagte Rabbi Sher. »Wenn Sie nur dort blieben bis zu Ihrem seligen Ende als
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