Der Rabbi
unterschrieben.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Der Detektiv sagt, daß sie YWCA früh am Morgen verlassen hat.«
Möglich, daß sie nach Hause gegangen ist, dachte Michael; daß sie jetzt zu Hause ist. Die Kinder waren in der Schule, und Anna kam erst gegen Abend, wenn es Zeit war, das Essen zu kochen. Er dankte Dan, hängte ab und sagte seiner Sekretärin, er werde den Rest des Tages zu Hause arbeiten.
Doch als er sein Büro verließ, läutete eben das Telephon, und einen Augenblick später kam die Sekretärin ihm nachgelaufen. »Ein Telegramm, Rabbi«, sagte sie.
MICHAEL MEIN LIEBER ICH VERREISE FÜR EIN PAAR
TAGE ALLEIN. BITTE MACH DIR KEINE SORGEN. ICH
LIEBE DICH. LESLIE
Er ging dennoch nach Hause, saß in der stillen Küche, trank Kaffee und dachte nach.
Woher wollte sie das Geld zum Verreisen nehmen, wovon wollte sie leben? Er trug ihr Bankbuch in der Tasche. Soweit ihm bekannt war, hatte sie nur ein paar Dollar bei sich.
Während er noch an dieser Frage herumnagte wie ein Hund an einem Knochen, läutete das Telephon, und als das Fernamt sich meldete, begann er zu beten. Aber dann erkannte er zwischen dem Krachen und Rauschen der Nebengeräusche die Stimme seines Vaters.
»Michael?« sagte Abe.
»Hallo, Pop? Ich hör dich kaum.«
»Ich hör dich gut«, sagte Abe vorwurfsvoll. »Soll ich beim Amt reklamieren?«
»Nein, jetzt hör ich dich. Was gibt's Neues bei dir in Atlantic City?«
»Ich werde lauter sprechen«, brüllte Abe. »Ich bin nicht in Atlantic City.
Ich bin -« Wieder das Rauschen atmosphärischer Störungen.
»Hallo?«
»Miami. Ich habe mich ganz plötzlich entschlossen und rufe dich an, damit du Bescheid weißt und dir keine Sorgen machst. Ich wohne 12
Lucerne Drive.« Er buchstabierte Lucerne. »Bei Aisner«, und er buchstabierte auch den Namen.
Michael notierte die Adresse. »Wo bist du dort, Pop? Ist das eine Pension? Ein Motel?«
»Eine Privatadresse. Ich bin da bei Freunden.« Abe zögerte einen Augenblick. »Wie geht's den Kindern? Und Leslie?«
»Danke, alles in Ordnung.« »Und dir? Wie geht's dir?« »Gut, Pop. Uns allen geht es gut. Und dir?« »Michael - ich bin im Begriff, zu heiraten.«
»Was hast du gesagt?« fragte Michael, obwohl die Nebengeräusche jetzt aufgehört hatten und er seinen Vater deutlich verstehen konnte. »Hast du heiraten gesagt?«
»Bist du bös?« fragte sein Vater. »Du denkst dir wohl, das ist glatt m'schuge - ein alter Mann wie ich?«
»Aber nein, ich finde es großartig. Wer ist sie denn?« Er war nicht nur erfreut, sondern auch erleichtert, obwohl ihm mit einem Anflug von Schuldgefühl einfiel, daß es vielleicht gar keine so großartige Sache sein könnte; schließlich wußte ja kein Mensch, mit was für einer Frau Abe sich da eingelassen hatte. »Wie heißt sie denn?«
»Ich hab dir doch schon gesagt, Aisner. Lillian mit dem Vornamen. Sie ist verwitwet, so wie ich. Verstehst du, sie ist die Frau, von der ich die Wohnung in Atlantic City gemietet habe. Na, was hältst du von dem Schachzug?«
»Schlau, sehr schlau! « Michael grinste; das ist ganz Vater, dachte er.
»Sie war mit Ted Aisner verheiratet - vielleicht kennst du den Namen?
Ein ganzes Dutzend jüdischer Bäckereien in Jersey hat ihm gehört.«
»Kenn ihn nicht«, sagte Michael.
»Ich hab ihn auch nicht gekannt. Er ist neunundfünfzig gestorben.
Sie ist eine süße Person, Michael. Ich glaube, sie wird dir gefallen.«
»Hauptsache, daß sie d i r gefällt. Wann wollt ihr denn heiraten ?«
»Wir haben uns vorgestellt, im März. Es hat ja keine Eile, über das Alter der Leidenschaften sind wir schließlich beide hinaus.« Aus der Art, in der Abe das sagte, erriet Michael, daß er etwas wiederholte, was Lillian Aisner gesagt haben mochte, vielleicht zu ihren eigenen Kindern.
»Hat sie Familie?«
»Ja, du wirst es nicht glauben«, sagte Abe, »sie hat einen Sohn, der Rabbiner ist. Allerdings orthodox. Er ist an einer schul in Albany, New York. Melvin, Rabbi Melvin Aisner.«
»Melvin Aisner... Kenn ich nicht.«
»Ich sag dir doch, er ist orthodox, deshalb habt ihr wahrscheinlich nie miteinander zu tun gehabt. Lillian sagt, er ist sehr angesehen unter den Kollegen. Ein netter Kerl. Sie hat noch einen zweiten Sohn, Phil, aber dem geh ich aus dem Weg, so gut ich kann. Sogar sie selber sagt, daß er ein schojte ist. Hat der nicht Auskünfte über mich einholen lassen, der Idiot! ? Ein Vermögen soll es ihn kosten!«
Michael wurde
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