Der Rabbi
schlimm erkältet waren, in einer unmöblierten Wohnung, betreut von einer zweiundzwanzigjährigen schwermütigen Mutter, die vor drei Wochen von ihrem Mann verlassen worden war. Es gab kaum etwas zu essen in der übelriechenden Wohnung.
Michael teilte Namen und Adresse dem Direktor der Jewish Family Agency mit, der versprach, noch am selben Nachmittag einen Fürsorger hinzuschicken.
Der nächste Name war Melvin Burack, ein Kleidergroßhändler, der zur Zeit von Michaels Besuch in einem der drei Wagen der Familie unterwegs war. Beim Tee in ihrem Wohnzimmer spanischen Stils versprach Moira Burack dem Rabbiner, nicht noch einmal zu vergessen und den Scheck unverzüglich an den Tempel zu schicken.
Nirgends war es ganz so schlimm, wie er gefürchtet hatte. Nicht einmal bei der siebenten Adresse auf seiner Liste: Berman, Sanford. June wartete Kaffee und Marmorkuchen auf, und Sandy Berman hörte ihm zu und bat dann höflich um einen Termin beim Armenausschuß, um eine Regelung zu besprechen, die ihm gestatten würde, seine Kinder in die Hebräische Schule zu schicken.
Was Michael schließlich aus dem Gleichgewicht brachte, war ein Vorfall, der sich ein paar Tage später ereignete: June und Sandy Berman kreuzten, als sie ihn herankommen sahen, auf die andere Straßenseite, um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden.
Und dieser Vorfall blieb nicht vereinzelt. Zwar gingen ihm nicht alle säumigen Zahler so auffällig aus dem Weg, aber keiner von ihnen brach in Begrüßungsfreude aus, wenn ihr Rabbiner ihnen begegnete.
Er stellte fest, daß er immer seltener von Mitgliedern seiner Gemeinde um geistlichen Beistand in persönlichen Krisen gebeten wurde.
Am späten Nachmittag saß er jetzt oft in dem noch unvollendeten Heiligtum und fragte Gott im Gebet, was er tun solle, während der Geruch von nassem Kalk und frischem Zement ihm in die Nase stieg und die Arbeiter auf dem Gerüst über ihm Ziegel fallen ließen, Weinflaschen öffneten, fluchten und einander dreckige Geschichten erzählten, da sie sich allein im Tempel glaubten.
Der Tempel Emeth wurde am achtzehnten Mai eingeweiht. Zwei Tage später legte Felix Sommers Michael nahe, für die noch vor den Sommerferien fällige Champagnerparty eine Rede vorzubereiten. Ihr Ziel sollte es sein, die jährlichen Kol-Nidre-Spenden , die im Herbst eingehoben werden sollten, frühzeitig sicherzustellen. Felix erklärte ihm, der Tempel brauche alles nur irgend verfügbare Kol-Nidre-Geld, um der Bank seine Hypothek abzuzahlen.
Während Michael dies noch überdachte, läutete das Telephon.
»Michael?« sagte Leslie. »Es ist soweit.«
Er verabschiedete sich hastig von Felix, fuhr nach Hause und setzte Leslie in den Wagen. An der Ausfahrt aus dem Campus war der Verkehr ziemlich dicht, aber die Straße zum Krankenhaus war jetzt, am frühen Nachmittag, relativ wenig befahren. Leslie war bleich, aber zuversichtlich, als sie dort ankamen.
Das kleine Mädchen kam fast so schnell auf die Welt wie sein Bruder acht Jahre zuvor, kaum drei Stunden nach dem Einsetzen der ersten heftigen Wehen. Der Warteraum war nicht weit genug vom Kreißsaal entfernt, so daß Michael von Zeit zu Zeit, wenn eine Schwester durch die Schwingtür am Ende der Halle kam, das Stöhnen und Schreien der Frauen hören konnte. Er war sicher, Leslies Stimme darunter zu erkennen.
Achtundzwanzig Minuten nach fünf Uhr kam der Geburtshelfer ins Wartezimmer und teilte ihm mit, seine Frau habe eine Tochter geboren, sechs Pfund und zwei Unzen schwer. Der Arzt bat Michael, mit ihm in die Cafeteria des Spitals zu kommen, und beim Kaffee erklärte er ihm, das Baby habe die Cervix gerade in dem Augenblick durchstoßen, da der Muttermund zufolge der Wehenbewegung aufs äußerste verengt gewesen sei. Der Riß habe auch eine Arterie verletzt, so daß eine Hysterectomie unmittelbar nach der Geburt notwendig gewesen sei; die Blutung sei nunmehr unter Kontrolle.
Nach einer Weile ging Michael hinauf und setzte sich ans Fußende von Leslies Bett. Ihre Augen waren geschlossen, die Lider bläulich und wie blutunterlaufen, aber bald schon sah sie ihn an und fragte mit schwacher Stimme: »Ist sie schön?«
»Ja«, gab er zur Antwort, obwohl er in seiner Sorge noch gar nicht nach dem Kind gesehen und sich auf die Mitteilung des Arztes verlassen hatte, daß es wohlauf sei.
»Wir werden keine mehr haben können.«
»Wir brauchen auch keine mehr. Wir haben einen Sohn und eine Tochter, und wir haben einander.« Er küßte ihre Finger
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