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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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und Michael spürte trotz all seiner Aufregung, wie Verlegenheit und Liebe bei ihrem Anblick in ihm aufstiegen und ihn überströmten.
    »Bist du krank?« fragte sie besorgt.
    »Ich bin nicht mehr müde.«
    In Wirklichkeit hatte er, wach im Bett liegend, seinen Part in der bar-mizwe-Zeremonie memoriert, wie er das in den letzten Monaten zumindest fünfzigmal am Tag zu tun pflegte, und dabei zu seinem Schrecken entdeckt, daß er die broche nicht konnte, den kurzen Segensspruch, den er vor der haftara, der längeren Stelle aus der Thora, zu sprechen haben würde.
     
    »Du mußt früh genug aufstehen«, flüsterte sie erregt. »Geh jetzt noch ins Bett.«
    Mehr schlafend als wachend machte sie kehrt und schlurfte zu-rück in ihr Schlafzimmer. Er hörte seinen Vater fragen, während die Sprungfedern unter ihrem Gewicht ächzten: »Was ist denn mit ihm los?«
    »Dein Sohn ist verrückt. Wirklich ein m'schugener.«
    »Warum schläft er denn nicht?«
    »Geh, frag ihn.«
    Abe tat, wie sie gesagt hatte; barfuß kam er in die Küche, das wirre schwarze Haar fiel ihm in die Stirn. Er trug nur Pyjama-hosen, wie es seine Gewohnheit war - denn er war stolz auf seinen Körper. Michael bemerkte zum erstenmal, daß die krausen Haare auf seiner Brust zu ergrauen begannen.
    »Was soll das heißen, zum Teufel?« fragte er. Er setzte sich auf den Küchenstuhl und wühlte mit beiden Händen in seinen Haaren.
    »Wie stellst du dir vor, daß du morgen bar-mizwe werden sollst?«
    »Ich hab die broche vergessen.«
    »Du meinst, du hast die haftara vergessen?«
    »Nein, die broche. Wenn mir die broche einfällt, dann kann ich auch die haf tara. Aber ich weiß die erste Zeile der broche nicht mehr.«
    »Herr Jesus, Michael, du hast diese verdammte broche schon mit neun Jahren gekonnt.«
    »Ja, aber jetzt kann ich sie nicht.«
     
    »Hör zu, du mußt sie nicht auswendig können. Sie steht im Buch.
    Du mußt sie nur ablesen.«
    Michael wußte, daß sein Vater recht hatte, aber das nützte ihm nichts. »Vielleicht werde ich die Stelle nicht finden«, sagte er verzagt.
    »Verlaß dich darauf, es werden mehr alte Männer um dich herumstehen, als dir lieb sein wird. Die werden dir die Stelle schon zeigen.« Seine Stimme wurde scharf.
    »Du gehst jetzt ins Bett. Genug von der m'schugass.«
    Michael ging zu Bett, aber er lag wach, bis das Dunkel seines Fensters sich mit grauem Licht füllte. Dann schloß er die Augen und schlummerte ein; er glaubte, kaum eine Sekunde geschlafen zu haben, als seine Mutter ihn weckte. Sie betrachtete ihn ängstlich.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ich glaub schon«, sagte er. Er stolperte ins Badezimmer und tauchte sein Gesicht ins kalte Wasser. Er war so müde, daß er kaum wußte, wie er sich anzog, eilig sein Frühstück aß und mit seinen Eltern zur Synagoge kam.
    Vor dem Tor küßte ihn seine Mutter zum Abschied und eilte die Stiegen hinauf, zu den Plätzen für die Frauen. Sie sah aus, als hätte sie Angst. Michael ging mit seinem Vater zu einem Platz in der zweiten Reihe. Die Synagoge war voll mit ihren Freunden und Verwandten. Sein Vater hatte nur wenige Angehörige, aber die Mutter kam aus einer großen und weitverzweigten Familie, und anscheinend waren sie alle gekommen. Viele Männer begrüßten sie flüsternd, als sie zu ihren Plätzen gingen. Michael bewegte die Lippen, die Grüße zu erwidern, aber seine Stimme gab keinen Ton.
    Er war eingeschlossen in einen Panzer aus Angst, der sich mit seinem Körper bewegte und aus dem es kein Entkommen gab.
    Die Zeit schleppte sich dahin. Michael nahm nur verschwommen wahr, daß sein Vater zur bema gerufen worden war, und von ferne hörte er Abes Stimme einen hebräischen Text lesen.
    Dann wurde sein eigener Name auf hebräisch aufgerufen - Michael ben Abraham -, und auf steifen, gefühllosen Beinen ging er zum Podium. Er berührte die Thora mit seinem taless und küßte die Fransen, dann starrte er auf die hebräischen Buchstaben auf dem vergilbten Pergament. Wie Schlangen wanden sie sich vor seinen Augen. »Borchu!« zischte einer der alten Männer neben ihm.
    Eine zitternde Stimme, die nicht die seine sein konnte, stimmte an: »Borchu es adonai hamvoroch. Borchu -«
    »BORUCH.« All die alten Männer korrigierten ihn wie aus einem Mund, grunzend und brummend, und der Chor ihrer Stimmen schlug ihm ins Gesicht wie ein nasses Handtuch. Wie betäubt blickte er auf und sah Verzweiflung in den Augen seines Vaters. Er begann den zweiten Satz nochmals.
    »BORUCH adonai hamvoroch

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