Der Rabbi
Reb ansprach; mit diesem Titel verband sich ein Status, der etwa in der Mitte zwischen dem des Rabbi und dem des Schuldieners lag. Der Reb, der Michaels Klasse unterrichtete, war ein magerer junger Mann mit Brille und braunem Bart. Er hieß Hyman Horowitz, aber niemand nannte ihn anders als Reb Chaim. Das gutturale ch seines jiddischen Vornamens faszinierte Michael, und er ernannte ihn im stillen zu Chaim Chorowitz dem Jagdchund, weil er meist mit geschlossenen Augen zurückgelehnt in seinem Sessel hinter dem Katheder saß, während seine Finger unaufhörlich den buschigen Bart durchliefen wie flinke Chunde auf der Jagd nach Chasen oder wilden Chühnern. Seine Klasse bestand aus zwanzig Jungen.
Michael, als der Neue, bekam den Platz direkt vor Reb Chaim, und er merkte bald, daß dies der schlechteste Platz war. Nie blieb ein Schüler lange dort sitzen, wenn er nicht dumm oder ein Erzschlingel war. Es war der einzige Platz, den Reb Chaim mit seinem Rohrstock erreichen konnte. Schlank, biegsam und gertenähnlich lag er vor dem Lehrer auf dem Katheder. Bei jedem Verstoß gegen das gesittete Betragen - ob es sich um Schwätzen oder schlechte Lernleistung handelte - pfiff das Rohr durch die Luft und landete präzis auf der Schulter des Unbotmäßigen.
Unterwäsche, Hemd und Pullover konnten den Schlag nicht zur Gänze abfangen: das Rohr war die bösartigste Waffe, die den Schülern je begegnet war, und sie betrachteten es mit berechtigter Furcht. Chaim der Jagdchund gab Michael eine Kostprobe seines Rohrstocks, als der Knabe gegen Ende der ersten Schulstunde in dem schäbigen Klassenzimmer umherblickte, statt alle Aufmerksamkeit an seine Studien zu wenden. Eben noch hatte sich der Lehrer in seinem Sessel zurückgelehnt, offensichtlich im Begriff, einzuschlummern, während seine Finger wie flinke Chunde den Bart durchliefen. Im nächsten Augenblick durchschnitt ein Pfeifen die Stille, wie der auf einen Sekundenbruchteil zusammen-gepreßte Ton einer fallenden Bombe. Der Lehrer hatte nicht einmal die Augen geöffnet, aber der Rohrstock traf Michael genau auf die linke Schulter. Der war zu überwältigt von Bewunderung für die Geschicklichkeit des Reb, als daß er geweint hätte, und das leise Glucksen von unterdrücktem Gelächter, das seine Mitschüler schüttelte, nahm der Strafe einiges vom Charakter einer individuellen Tragödie.
Der Schlag war nur die übliche Eröffnungsprozedur gewesen, und Michael war damit nicht unter die schwarzen Schafe eingereiht worden. Das geschah erst an seinem fünften Tag in der Hebräischen Schule. Reb Chaim hatte seine Schüler außer in Hebräisch auch in Religion zu unterweisen, und er war soeben ans Ende der Geschichte von Moses und dem brennenden Dornbusch gekommen. Ernsthaft teilte er ihnen mit, daß Gott allmächtig sei.
Ein faszinierender Gedanke hatte von Michael Besitz ergriffen. Ehe er noch wußte, was er tat, hatte er schon die Hand gehoben.
»Meinen Sie damit, daß Gott überhaupt alles tun kann?« Reb Chaim sah ihn ungeduldig an. »Alles«, sagte er.
»Kann Er einen riesengroßen Felsen machen? Einen, der so schwer ist, daß eine Million Menschen ihn nicht bewegen kann?«
»Natürlich kann Er das.«
»Und kann Er ihn bewegen?«
»Natürlich.«
Michael wurde aufgeregt: »Kann Er auch einen Felsen machen, der so schwer ist, daß sogar Er ihn nicht bewegen kann?«
Reb Chaim strahlte vor Glück darüber, daß er seinen neuen Schüler zu so eifrigem Bemühen angeregt hatte. Er sagte: »Na-türlich kann Er das, wenn es Sein Wille ist.«
Michael schrie vor Erregung: »Aber wenn Er den Felsen selbst nicht bewegen kann, dann kann Er nicht alles tun! Also ist Er nicht allmächtig! «
Reb Chaim öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Sein Gesicht lief rot an, als er Michaels triumphierendes Grinsen sah. Der Rohrstock zischte auf beide Schultern des Knaben, ein Schauer von Schlägen, für die Zuschauer wahrscheinlich so aufregend wie ein Tennismatch, aber äußerst schmerzvoll für den Empfänger. Diesmal weinte Michael, aber nichtsdestoweniger war er zum Helden der Klasse und zum öffentlichen Ärgernis Nummer eins für seinen Hebräischlehrer geworden.
Michael war in einer fürchterlichen Situation. Zwischen Stash und Reb Chaim war sein Leben zu einem einzigen Alptraum geworden.
Er versuchte zu entkommen. Nachmittags, wenn er aus der Public School 467 kam, ging er vier Straßen weiter in eine Kegelbahn, saß dort drei Stunden lang auf einer Holzbank und sah den
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