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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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nochmals im Bett aus. Einen Augenblick lang war er versucht, die Augen zu schließen und wieder einzuschlafen. Würde er eingeschneit, dann könnte er sich drei oder vier Tage lang ausruhen, bis der Schnee wieder geschmolzen wäre. Die Aussicht war verführerisch; zu essen gab es genug in der Hütte, und er war müde.
    Aber er wußte, daß er für die Leute, die er aufsuchte, eine vertraute Gestalt werden mußte, wenn er im Bergland mit Erfolg arbeiten wollte.
    Er zwang sich, das warme Bett zu verlassen und schnell in die Kleider zu schlüpfen.
    Als er zur Brücke kam, war sie schon dünn mit Schnee bedeckt. Den Atem anhaltend und wortlos betend, fuhr er den Wagen langsam hinauf.
    Die Räder griffen; in wenigen Augenblicken war er drüben.
    Nach zwanzig Minuten kam er an eine Hütte, deren Fenster erleuchtet waren. Der Mann, der ihm öffnete, war dunkel und mager, sein Haar schon schütter. Ohne ein Zeichen der Bewegung hörte er an, was Michael zu sagen hatte: daß er im Schnee nicht weiterfahren wolle; dann öffnete er die Tür weit und führte den Gast ins Haus. Indessen war es drei Uhr morgens geworden, aber in der Stube brannten noch drei Laternen, im Kamin loderte ein Feuer, und davor saßen ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Michael hatte auf ein Bett gehofft, aber sie boten ihm einen Stuhl an. Der Mann, der ihm geöffnet hatte, stellte sich als Tom Hendrickson vor. Die Frau war mit ihm verheiratet, das kleine Mädchen war Ella, ihre Tochter. Die beiden andern waren Toms Bruder Clive und dessen Sohn Bruce. »Und das ist Mr. Robby Kind«, sagte Hendrickson zu seiner Familie.
    »Nein, Rabbi Kind«, berichtigte Michael. »Mein Vorname ist Michael.
    Ich bin Rabbiner.«
    Sie starrten ihn an. »Was ist das?« fragte Bruce.
    Michael lächelte den Erwachsenen zu, während er dem Jungen sagte:
    »Das ist mein Beruf, damit verdiene ich mein Geld.«
    Sie lehnten sich wieder in ihre Stühle zurück. Tom Hendrickson warf von Zeit zu Zeit ein Kiefernscheit ins Feuer. Michael schaute verstohlen auf seine Uhr und fragte sich, was hier vorgehe. »Wir wachen für unsere Mutter«, sagte Hendrickson.
    Clive Hendrickson nahm Geige und Bogen wieder auf, die er neben seinem Stuhl auf den Boden gelegt hatte, lehnte sich zurück, schloß die Augen und begann leise zu fiedeln, während sein Fuß den Takt gab. Bruce schnitzte an einem weichen Stück Föhrenholz, die Späne ringelten sich unter seinem Messer, fielen nieder ins Feuer. Die Frau lehrte ihre Tochter ein Strickmuster. Sie beugten sich über ihre Nadeln und sprachen im Flüsterton. Tom Hendrickson starrte ins Feuer.
    Michael fühlte sich mit ihnen einsamer als zuvor allein im Wald. Er holte eine kleine Bibel aus der Tasche seiner Jacke und begann zu lesen.
    »Mister.«
    Tom Hendrickson betrachtete aufmerksam die Bibel. »Sind Sie ein Prediger?«
    Das Geigen, das Schnitzen und das Stricken hörten auf: fünf Augenpaare starrten Michael an.
    Jetzt wurde ihm klar, daß sie nicht wußten, was ein Rabbiner ist.
    »Man kann es so nennen«, sagte er. »So eine Art Prediger des Alten Testaments.«
    Tom Hendrickson griff nach einer der Laternen und lud den verwunderten Michael mit einer Kopfbewegung ein, ihm zu folgen.
    In dem kleinen Hinterzimmer verstand Michael plötzlich, warum die Leute im Haus wachten. Die alte Frau war groß und mager wie ihre Söhne. Ihr Haar war weiß, sorgfältig gekämmt und zu einem Knoten geflochten. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht friedlich, zumindest jetzt, im Tod.
    „Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Michael.
    »Sie hat ein gutes Leben gehabt«, sagte Hendrickson mit klarer Stimme. »Sie war eine gute Mutter. Sie ist achtundsiebzig Jahre alt geworden. Das ist eine lange Zeit.« Er sah Michael an. »Die Sache ist die, wir müssen sie begraben. Es ist jetzt zwei Tage her. Der Prediger, den wir hier hatten, ist vor ein paar Monaten gestorben.
     
    Clive und ich haben daran gedacht, sie morgen früh ins Tal zu führen. Sie wollte hier begraben werden. Ich wäre froh, wenn Sie sie einsegnen könnten.«
    Michael spürte das Verlangen, zu lachen, und gleichzeitig zu weinen -
    und natürlich tat er weder das eine noch das andere. Er sagte nur sehr sachlich: »Sie wissen, daß ich Rabbiner bin. Jüdischer Rabbiner.«
    »Die Sekte spielt keine Rolle. Sind Sie Prediger? Ein Mann Gottes?«
    »Ja.«
    »Dann wären wir Ihnen dankbar für Ihre Hilfe, Mister«, sagte Hendrickson.
    »Es ist mir eine Ehre«, erwiderte Michael hilflos. Dann kehrten sie ins

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