Der Rabbi
Neugier nachgegeben habe.«
»Sie sollten aus dieser einen Erfahrung nicht eine große Angelegenheit machen, die Ihr ganzes Leben verändert«, sagte er behutsam. Sein Rücken begann zu schmerzen, und einige Haarbüschel waren ihm in die Hose gerutscht.
»Das möchte ich auch nicht«, sagte sie leise.
»Es gibt kein Leben ohne solche Erfahrungen. Es gibt keinen Menschen, der nicht andere verletzt - und auch sich selbst. Wir langweilen uns und spießen einen kleinen Fisch auf den Haken, wir sind hungrig und essen Fleisch, wir spüren Lust und machen Liebe.«
Das Mädchen begann zu weinen.
Er wandte sich ihr zu, staunend ergriffen von der tiefen Wirkung seiner Worte. Aber sie betrachtete weinend seinen Kopf.
»Es ist das erstemal, daß ich jemandem die Haare geschnitten habe«, sagte sie.
Langsam fuhren sie die Bergstraße zurück und führten stille Gespräche in der einbrechenden Dunkelheit. Einmal schlug Leslie die Hände vor das Gesicht und ließ sich in ihren Sitz zurückfallen, aber diesmal wußte er, daß sie lachte. Als sie bei dem Gasthof ankamen, küßte er sie vor dem Aussteigen zum Abschied. »Das war ein guter Tag«, sagte sie.
Ungesehen schlich er sich hinauf in sein Zimmer. Am nächsten Morgen reiste er sehr zeitig ab - er hatte Leslie gebeten, ihn bei ihren Gastgebern zu entschuldigen. Der Friseur war fünfzig Kilometer von Michaels nächster Station entfernt, und er hatte ihn seit Wochen nicht aufgesucht, weil der Mann sein Handwerk nicht verstand.
Kopfschüttelnd betrachtete der Alte den seltsamen Haarschnitt.
»Die muß ich aber sehr kurz schneiden, um die Stufen wegzukriegen«, sagte er.
Als er fertig war, konnte auch keine jarmulka mehr das traurige Resultat verbergen: von Michaels Haaren war nichts als ein brauner Flaum übriggeblieben.
In einem Gemischtwarenladen neben dem Friseurgeschäft erstand er eine khakifarbene Jagdmütze, die er in den folgenden Wochen auch an heißen Tagen trug, sich glücklich schätzend, daß er nicht barhäuptig beten durfte.
22
Als es wirklich Sommer geworden war, suchte Michael kein Nachtquartier mehr. Der Schlafsack, den Rabbi Sher so vorsorglich auf seine Liste gesetzt hatte, war zwar etwas stockfleckig geworden, erwies sich aber als äußerst brauchbar. Nachts schlief Michael unter den Sternen, immer darauf gefaßt, von einem Wolf oder einem Luchs verspeist zu werden, und lauschte dem Wind, der über die Berge kam und rastlos in den Bäumen rauschte. Am Nachmittag, wenn die fernen Berge in der Hitze blau zu flimmern begannen, unterbrach er seine Fahrt und tat es den Fischen gleich, anstatt sie zu fangen, lag nackt und allein im seichten Wildwasser, prustend und lachend über die eisige Kälte, oder gesellte sich, nur mit Unterhosen bekleidet, zu ein paar einfältig schweigsamen Burschen aus den Bergen, die an einer tieferen Stelle des Flusses schwammen.
Seine Haare wuchsen; als sie lang genug geworden waren, bürstete er sie jeden Morgen mit nasser Bürste zurück, um den Scheitel loszuwerden, den er vor dem kurzen Haarschnitt getragen hatte. Er rasierte sich regelmäßig und machte an jeder seiner Stationen von Wanne oder Dusche Gebrauch. Seine Gemeinde ernährte ihn nur zu gut, anläßlich der Besuche des Rabbiners gab es überall üppige Mahlzeiten. Er hörte auch auf, sich selbst um seine Wäsche zu kümmern, und führte einen entsprechenden Turnus ein, da vier Hausfrauen an seiner Strecke sich angeboten hatten, ihm diese Arbeit abzunehmen. Bobby Lilienthal hatte genug Hebräisch erlernt, um nun als Vorbereitung auf seine bar-mizwe mit der haf tara beginnen zu können. Stan Goodsteins Mutter starb, und Michael zelebrierte sein erstes jüdisches Begräbnis in seiner Gemeinde, und dann bestellte ihn Mrs. Marcus für den 12. August, und er zelebrierte seine erste Hochzeit.
Es war eine Hochzeit großen Stils, die Räumlichkeiten des Gasthofs wurden fast, wenn auch nicht ganz bis zum äußersten ausgenützt, und es ging für die Ozark Mountains erstaunlich vornehm zu. Die Verwandten beider Familien waren aus Chicago, New York, Massachusetts, Florida, Ohio und zwei Städten in Wisconsin gekommen. Von Morts Freunden war keiner erschienen, wohl aber vier Studienkolleginnen von Deborah, unter ihnen Leslie Rawlings, die den Bräutigam führen sollte.
Vor der Trauung saß Michael fast eine Stunde lang mit Mort und dessen jüngerem Bruder, der als Brautführer figurierte, in einem der Schlafzimmer im Oberstock. Die beiden Brüder waren sehr aufgeregt und
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