Der Raben Speise
weil der größte Teil seines Gesichts von einem Schal verdeckt wurde. Wohl aber die Augenpartie mit einer sternförmigen, weißen Narbe. Ich wusste, wo mir der Schweinehund schon einmal begegnet war. Mit dieser Erkenntnis schleppte ich mich weiter in den Wald hinein – in die Richtung, in der ich das Bauernhaus vermutete.
Rosenkranz und Güldenstern
Wie weit und wie lange ich mich durch Brombeerranken, Kieferngehölz, Wacholdergebüsche, Rinnsale und moorige Wasserlöcher gearbeitet hatte, kann ich im Nachhinein nicht mehr angeben. Jedenfalls hatte der Regen aufgehört, die Wolkendecke war aufgerissen und ein milchiger Mond tat sein Bestes, mir bei der Orientierung behilflich zu sein. Eine erste und oberflächliche Examination meiner selbst hatte ergeben, dass nichts gebrochen war, und meine von einer Unzahl von Prellungen verursachten Schmerzen hatten gottlob nachgelassen. Trotzdem war ich heilfroh, als sich endlich die Umrisse meines Ziels am Rande einer weitläufigen Heidefläche abzeichneten.
Gewitzigt durch den vorausgegangenen Hinterhalt, verharrte ich eine ganze Weile in der Sicherheit des Waldrandes, lauschte und beobachtete, bis ich mich endlich aus dem schützenden Dunkel auf die helle Sandfläche wagte. Wie angebracht meine Vorsicht war, bestätigte mir das, was ich wenige Schritte entfernt hinter einem Ginsterbusch fand. Es war mein Verfolger von vorhin, der dort mit einer Luntenpistole in der Hand auf mich lauerte. Der Platz war gut gewählt, von dort aus hätte er mich leicht mit einem Schuss erledigen können. Aber er feuerte nicht. Er hatte sich auch nicht durch eine unbedachte Bewegung oder ein Geräusch verraten. Und schon gar nicht hatte ihm das Gewissen geschlagen und ihn zur reumütigen Umkehr bewogen. Er war einfach tot, innerlich verblutet an meinem ungezielten Stich.
Dennoch nahm ich ihm vorsichtshalber die Waffe ab und schleuderte sie in die Büsche, bevor ich ihm den Schal herunterwickelte. Der Anblick seines bartstoppeligen Gesichts mit dem leicht geöffneten Mund und den wenigen, schadhaften Zähnen machte mich auch nicht schlauer. Ich durchsuchte seine Kleidung, wendete seinen Umhang und zog ihm sogar die langschäftigen Stiefel von den Beinen, ohne etwas von Bedeutung zu finden. Also setzte ich schließlich meinen Weg fort.
Was mich Augenblicke später in den Schatten einer niedrigwüchsigen Eiche springen ließ, war ein lang gezogener, unmenschlicher Wehlaut, der so gotterbärmlich klang, als quelle er aus den Tiefen der Hölle hervor. Ich ließ mich auf alle viere nieder und kroch, meine sich wieder bemerkbar machenden Schmerzen missachtend, unter Ausnutzung jeder sich bietenden Deckung bis an die Hauswand heran. Langsam und so leise wie möglich schob ich mich unter das einzige Fenster, aus dessen hölzernem Laden durch einen Spalt ein Lichtschimmer fiel. Mit der Vorsicht einer ausgehungerten Maus, die über eine schlafende Katze klettern muss, um an den rettenden Käse zu gelangen, richtete ich mich so weit auf, dass ich durch den Schlitz spähen konnte. Gleichzeitig ertönte wieder dieses durch Mark und Bein dringende Geheul.
Mein beengtes Gesichtsfeld gestattete mir nicht, den nur von einer Feuerstelle und einem Kerzenleuchter erhellten Raum bis in die Ecken zu überblicken. Doch das einzig Wichtige, das sich dort abspielte, breitete sich in seinem ganzen Schrecken vor mir aus.
An einen Stuhl gefesselt und die Front mir zugekehrt, saß mit heruntergerissenen Kleidern der fürstbischöfliche Berater Cornelis Wullenweber, um dessen Schädel der Rosenkranz der Schmerzen gezurrt war. Dabei handelt es sich, meine zartbesaiteten Zuhörer, um eine kaum fingerdicke Schnur, die so kunstvoll geknüpft wird, dass sich dicke Knoten dicht neben die Augäpfel des Opfers legen. Wie bei einer Garrotte wird hinten ein Stab durchgesteckt und daran gedreht. Je nachdem, wie weit man das Spiel treibt, werden dem Delinquenten die Augen aus den Höhlen gedrückt oder der gesamte Schädel zerquetscht.
Wullenweber besaß noch seine Augen, wenngleich sie wie bei einem Frosch schon unnatürlich weit hervorstanden.
Mein erster Impuls war, hineinzustürmen und ihn aus der Gewalt seiner Folterer zu befreien. Aber war nicht der Narbige, der mich vorhin hatte umbringen wollen, ein Handlanger eben dieses Wullenweber? Ich wusste nicht, was ich denken sollte, und in einer solchen Lage ist es immer am besten, meine heißspornigen und hoffentlich belehrbaren Zuhörer, mehr Informationen zu sammeln. Also
Weitere Kostenlose Bücher