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Der Raben Speise

Der Raben Speise

Titel: Der Raben Speise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F.G. Klimmek
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wisst, habe ich nach den Tod des Conrad von Harteveldt die Burg abgeriegelt, sodass keine Maus hinein oder heraus konnte. Doch es musste schließlich auch die tägliche Versorgung gewährleistet werden, denn wir waren ja nicht auf eine Situation eingerichtet, die einer Belagerung gleichkommt. Also mussten für gewisse Zeiten, in denen ich meine Gäste in ihren Kammern bewachen ließ, die Tore geöffnet und die Zugbrücke heruntergelassen werden. Dabei muss sich der Sohn unseres Stallmeisters auf einem Wagen versteckt haben und so nach draußen gelangt sein. Jedenfalls fehlte er beim abendlichen Mahl, sodass ich, nachdem ich das Ganze zunächst für einen Scherz gehalten hatte, am nächsten Morgen die ganze Burg nach ihm absuchen ließ. Vergeblich. Als ich gerade Order geben wollte, auch im Dorf nach ihm zu spüren und erforderlichenfalls sogar die nahen Wälder zu durchkämmen, kam unter lautem Geschrei ein Töpfer an, der das Kind zwar blutend, aber noch lebend in der Nähe der Straße gefunden hatte. Er hat den Jungen auf den Wagen gelegt und mitgebracht. Bei seiner Ankunft war das Kind jedoch schon tot.«
    Der Herr von Crange sah uns erwartungsvoll an, als hätten wir für alles eine Erklärung zu bieten. Als wir mit nichts anderem aufwarten konnten als verlegenem Schweigen, fuhr er fort: »Ich habe natürlich sofort nach dem Bader geschickt, aber, wie gesagt, es war alles zu spät. Es versteht sich von selbst, dass ich den Jungen trotzdem untersuchen ließ. Er hatte eine einzige Stichwunde im Rücken, und Wilken – Ihr kennt ihn ja bereits – hat das darin gefunden.«
    Mit diesen Worten legte er ein etwa zwei Zoll langes und einen halben Zoll breites Stück einer grauweißlichen Masse vor uns auf den Tisch, das hart wie Stein war und an ein Fragment eines Eiszapfens erinnerte. Genau wie ein solches hatte es an beiden Enden glatte Bruchflächen. Nachdem ich es ausgiebig betrachtet und befühlt hatte, reichte ich es Ossenstert hinüber, der es nach einer ähnlichen Examination unter bedächtigem Wiegen des Kopfes und einigem Stirnrunzeln wieder auf den Tisch legte.
    »Ich weiß nicht, was es ist, aber wenn niemandem etwas Besseres einfällt, tippe ich auf Glas.«
    »Glas?!« Der Graf und ich sprachen wie aus einem Mund.
    »Ja, Glas. Wenn keiner etwas dagegen hat, dann lasst mich Folgendes versuchen.«
    Mit einer Geschwindigkeit, die ich Ossenstert gar nicht zugetraut hätte, zog er einen metallenen Schöpflöffel vom Haken und schmetterte die Kelle mit derselben schwungvollen Bewegung auf das Objekt. Das zerplatzte vor unseren Augen in hundert winzige Teile. Mein Freund klaubte einige davon auf und rollte sie auf seinem Handteller herum, während er sie gegen das Licht hielt.
    »Glas – ich bin mir sicher. Wo es allerdings herstammt und was das bedeuten soll, das muss ein anderer klären.« Dabei schleuderte er die Krümel in Richtung Esse und wischte sich die Hände sauber. »Wie ist es überhaupt zu der Annahme gekommen, der Junge sei ermordet worden?« Auf den verständnislosen Blick unseres Gastgebers hin beeilte sich Ossenstert zu ergänzen: »Ich meine, wieso kann es kein Unfall gewesen sein?«
    »Oh, sehr einfach. Der Junge lebte noch, wie gesagt, als der Töpfer ihn fand. Und er konnte da auch noch selber reden. Von hinten hätte man ihn angegriffen und ihm einen Stich versetzt. – Ich habe keine Veranlassung, an den Worten des Töpfers zu zweifeln. Er kommt seit Jahren im Frühling und im Herbst hier durch. Jeder kennt ihn, bei jedem gilt er als ehrliche Haut. Und um Eure nächste Frage gleich vorwegzunehmen: Ich kann mir keinen Grund denken, aus dem jemand dem armen Kind hätte etwas zu Leide tun wollen. Es ist so vollkommen rätselhaft, ebenso rätselhaft wie das Mirakel mit dem Gesicht.«
    Dirk Hillink war während des Gesprächs aufgestanden und hatte sich, der Macht der Gewohnheit folgend, neben die Tür gestellt, um diese zu sichern. Als Ossenstert »mit dem Gesicht?« echote und ich scharf die Luft einsog, hielt es ihn dort nicht mehr und er kehrte an den Tisch zurück. »War der Junge einer von diesen, die das Zweite Gesicht haben?« Der gute Dirk war so wie sein Bruder allen Erfahrungen zum Trotz immer noch stark von den Legenden und Überlieferungen seiner nördlichen Heimat geprägt, in der die Nachtgeister umgehen und Irrlichter die Menschen ins Moor locken.
    »Nein, nein«, wehrte der Herr von Crange ab, »viel fantastischer. Das Kind soll immer wieder gestammelt haben, dass der Mörder

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