Der Rache dunkle Saat - Booth, S: Rache dunkle Saat - One Last Breath
sein Handy ausgeschaltet. Er ist nicht erreichbar.«
Murfin lachte. »Du kennst doch unseren Ben«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er wieder in einer Höhle unterwegs.«
40
An diesem Abend läutete in Castleton keine Glocke. Eigentlich hatte Ben Cooper damit gerechnet, sie bei Einbruch der Dunkelheit zu hören. Als er die Straße überquerte und dem Weg am Fluss folgte, kam die Erinnerung an ihren Klang zurück.
Cooper war als Kind zweimal in Castleton gewesen. Beim zweiten Mal nicht bei einem Schulausflug, sondern mit seiner Familie. Es war am Abend gewesen und dazu noch im Winter – er war sich nicht mehr sicher, ob sie vielleicht hergekommen waren, um sich die Weihnachtsbeleuchtung anzusehen. Er wusste nur noch, dass er mit seiner Mutter und seinem Vater hier war und dass es im Winter war, weil er sich an das Glockenläuten erinnerte: ein einzelner Ton, der immer wiederholt wurde. Er hatte gehört, wie er hinter den Gebäuden ertönte, als sie die Cross Street entlanggingen, und immer lauter wurde, als sie zur Kirche um die Ecke bogen. Die Glocke hatte einen scharfen Nachhall – ein bitterer, unglücklicher Klang, der von den Fassaden des George-Hotels und des Castle-Hotels widerhallte, deren Tische und Stühle auf verlassenen Terrassen standen.
Ein Mann in einem der Geschäfte hatte ihnen gesagt, dass sie die »Abendglocke« genannt wurde. Im Winter wurde sie in Castleton jeden Abend zu der Stunde geläutet, wenn die Bewohner ihre Feuer und Lampen für die Nacht löschen sollten. Diese Tradition ging auf eine Zeit zurück, als die Menschen noch in Holzhütten mit Strohdächern wohnten. Jetzt diente sie nur noch dazu, an die Vergangenheit zu erinnern.
Doch jetzt war Juli, und die Nacht war still, als Cooper allein im gedämpften Licht der Straßenlaternen am Fluss entlangging. Trotzdem hatte die Erinnerung an die Glocke seinen Vater für einen Augenblick lebendig werden lassen.
Er konnte in die hell erleuchteten Zimmer der Cottages sehen, die in das untere Ende der Schlucht gezwängt waren und nahe am Weg standen. An einer Stelle befand sich eine schwarze Kluft zwischen ihnen. Dem Lärm nach zu urteilen, musste ein großer Teil des Wassers, das aus dem Höhlensystem sprudelte, hier austreten. Sein Rauschen stieg zwischen den hohen Wänden empor. Dieses Geräusch war das Einzige, was die dunkle Leere füllte, abgesehen von seiner Phantasie.
Cooper kam sich wie ein Eindringling vor, als er schweigend in Richtung Lunnen’s Back ging. Hier haftete die Vergangenheit noch an den Felsen. Sie hatte alles in ihrem festen Griff, den auch viele Jahrzehnte nicht hatten lösen können. Einige der Häuser machten den Eindruck, als hätten sie es nicht ganz ins zwanzigste Jahrhundert geschafft, geschweige denn ins einundzwanzigste. Sie verfügten zwar vielleicht über Zentralheizung und Satellitenfernsehen, doch diese Dinge schienen vergänglich zu sein und kaum einen Einfluss auf ihre wirkliche Existenz zu haben. Diese Häuser waren aus den Wänden der Kalksteinschlucht gehauen worden. Und als sich die Dunkelheit herabsenkte, schienen sie sich in den Hang zurückzuziehen, schienen langsam in den Fels zu kriechen und vor der modernen Welt zurückzuweichen, als kämen sie nur bei Tageslicht heraus. Mit jedem Schritt in Richtung Höhle hatte Cooper das Gefühl, ein Stück weiter in die Vergangenheit zu schreiten.
Wenige Minuten später klopfte Cooper an Alistair Pages Tür, bekam jedoch keine Antwort. Er klopfte fester. Rock Cottage war ein so kleines Haus, dass er hätte hören müssen, wenn
drinnen jemand gerufen oder sich auch nur bewegt hätte, aber es herrschte völlige Stille.
Als er durch eines der Fenster hineinschaute, kam er sich vor wie ein aufdringlicher Tourist. Im Küchenanbau hinten am Haus brannte Licht, doch von Page war weit und breit nichts zu sehen. Er klopfte an die Fensterscheibe, was allerdings ebenfalls ohne Erfolg blieb.
Cooper griff zu seinem Handy. Er hatte zwar keine Handynummer von Alistair Page, aber da ihn Page vor kurzem angerufen hatte, war seine Nummer vermutlich noch unter den letzten zehn eingegangenen Anrufen gespeichert. Dann fiel ihm jedoch ein, dass Page ihn im Büro angerufen hatte und nicht auf seinem Mobiltelefon.
Plötzlich bemerkte er eine alte Dame, die ihn beobachtete. Sie war aus einem der anderen Cottages gekommen – entweder aus dem weißen mit der schwarzen Eingangstür oder aus dem, das aussah, als stünde es leer, da sein Mauerwerk bereits bröckelte.
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