Der Rache Suesser Klang
»Ja.«
»Dann stellen Sie es auf den Zettel. Und jetzt los.« Als der Arzt zur Tür schlurfte, drückte sie ihm den Lauf der Pistole an die Schläfe, bedeutete ihm aber noch einmal, stehen zu bleiben. Sie drehte sich um, sah dem Jungen direkt in die Augen und machte die drei Zeichen, die sie aus dem Buch für amerikanische Zeichensprache gelernt hatte. Sie hatte das Buch am Morgen in dem Laden gekauft, der außerdem als Internetcafé diente. Sie hatte seinen Eltern eine Lösegeldforderung schicken, Zeichensprache lernen und dabei einen köstlichen Milchkaffee trinken können. Alles unter einem Dach. So weit zu den Vorzügen von multifunktionalen Geschäften.
Mom … wird … sterben.
Der Junge erbleichte, so dass sie annahm, dass sie die Zeichen gut genug hinbekommen hatte.
Sie führte den Arzt zu seinem Wagen, schob ihn hinters Steuer, sah sich seine Adresse auf der Post an und ließ ihn fahren, bis er ein paar Blocks von seiner Wohnung entfernt angekommen war. Sie zwang ihn, in einer Seitenstraße zu parken, auszusteigen und sich an die Wand zu stellen. Sie nahm ihm seine Brieftasche, seine Autoschlüssel und – in einer plötzlichen Eingebung – seine Brille ab und befahl ihm, sich umzudrehen.
Dann jagte sie ihm eine Kugel durch den Hinterkopf. Trat gegen seine Tasche, so dass sich der Inhalt auf den Asphalt ergoss. Nahm einige Flaschen und Schachteln mit Medikamenten, die er bei sich hatte. Es würde aussehen wie ein Überfall eines Süchtigen. Und so etwas geschah schließlich jeden Tag.
Ungefähr in einer Stunde würde sie ins Haus zurückkehren und von der anstrengenden Jobsuche erschöpft sein. Und ja, das war sie tatsächlich. Sie hatte heute so viel erledigt.
Chicago
Dienstag, 3. August, 17.15 Uhr
»Ich hasse Identifizierungen«, murmelte Mia und lehnte sich gegen das Sichtfenster im Leichenschauhaus. Ihre Augen brannten, und sie rieb sie. »Man gewöhnt sich einfach nicht dran.«
Abe seufzte und ließ die Schultern sinken. »Ich muss jetzt gehen, meine Frau küssen und mit dem Baby spielen.« Er sah zu Sikorskis jungem Ehemann, der allein auf einer Bank saß, das Gesicht mit den Händen verbarg und lautlos weinte. »Ich sorge dafür, dass er gut nach Hause kommt. Und du gehst auch, verstanden?«
»Ganz sicher.«
Als sie seinen zweifelnden Blick sah, fügte sie hinzu: »Doch, bestimmt. Ich habe heute Abend eine Verabredung, ich werde mich also hüten, meine Zeit mit Papierkram zu verschwenden.« Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. »Ich brauche nur noch ein paar Minuten.«
Abe drückte ihre Schulter. »Viel Spaß mit deiner Verabredung.«
Sie zwang sich zu einem Grinsen. »Er ist Feuerwehrmann. Das
muss
Spaß machen.« Sie sah zu, wie er Mr. Sikorski auf die Füße half, ihn stützte und ihn behutsam nach draußen führte. Drei kleine Kinder hatten ihre Mutter verloren, und es war Mias Aufgabe, den Täter zu finden und ihn dafür bezahlen zu lassen.
An manchen Tagen aber war es alles zu viel. Zu viel Leid und Kummer. Jemand tippte an die Scheibe hinter ihr. Mia fuhr erschreckt herum, entdeckte Julia VanderBeck, die Gerichtsmedizinerin, die auf der anderen Seite des Fensters stand, und bedachte sie mit einem finsteren Blick. Julia bedeutete ihr, einzutreten, und Mia biss sich auf die Lippe und gehorchte.
»Ist Abe gegangen?«
»Ja, wieso?«
»Weil ich etwas gefunden habe, das ich euch beiden zeigen wollte.« Julia führte sie an Sikorskis Leiche vorbei zu einem anderen Körper, der mit einem Tuch bedeckt war. »Dieser Bursche hier ist vor einer halben Stunde eingeliefert worden. Man hat ihn in einer kleinen Gasse gefunden.«
Mias Nackenhaare stellten sich auf. »Neun Millimeter in den Kopf?«
»Genau. Erinnerst du dich an das Schalldämpfermuster, das ich dir an Sikorskis Schädel gezeigt habe? Die Art, wie die Haut vom Einschussloch weggedrückt wird?« Sie zog das Tuch zurück und enthüllte einen älteren Asiaten. »Dasselbe Muster, dieselbe Eintrittsstelle. Ich gehe jede Wette ein, dass die Ballistiker die beiden Fälle als identisch bezeichnen würden.«
Mia blickte auf das Schild am Zeh des Mannes und zog die Brauen zusammen. »Lee.«
»Dr. George Lee«, sagte Julia. »Seine Brieftasche war weg, aber er trug ein Identifikationsarmband von
MedicAlert.
«
Mia ließ den Zettel los. »Oh, verdammt, ich kenne den Mann. Er hat ehrenamtlich für eine Freundin von mir gearbeitet, die ein Frauenhaus betreibt.« Sie betrachtete Lee und versuchte, die Puzzleteile
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