Der Raecher
Hackordnung der Kanzlei ganz unten.
Dexter beklagte sich nicht. Er brauchte Geld, und die Stelle gefiel ihm, denn als Anwalt der Habenichtse konnte er weitaus mehr Erfahrungen sammeln als in einem eng begrenzten Spezialgebiet. Er bearbeitete Fälle von Kleinkriminalität, grober Fahrlässigkeit und eine Vielfalt anderer Rechtsstreitigkeiten, über die schließlich vor Gericht verhandelt wurde.
Im folgenden Winter streckte eine Sekretärin den Kopf in sein Bürokabuff und wedelte mit einer Akte.
»Was haben Sie da?«, fragte er.
»Einen Einspruch gegen einen Abschiebungsbescheid«, antwortete sie. »Roger sagt, er habe dafür keine Zeit.«
Der Leiter der kleinen Abteilung pickte sich die Rosinen heraus, sofern es überhaupt welche gab. Einwanderungsfälle waren mit Sicherheit keine.
Dexter seufzte und vertiefte sich in die neue Akte. Die mündliche Verhandlung war für den nächsten Tag anberaumt.
Man schrieb den 20. November 1978.
9
Der Flüchtling
I n jenen Jahren gab es in New York eine karitative Einrichtung namens Refugee Watch. Die Mitglieder selbst verstanden sich als »sozial engagierte Bürger«. »Weltverbesserer« war eine weniger schmeichelhafte Bezeichnung.
Die Gruppe hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jenes menschliche Strandgut zu betreuen, das an die Küsten der USA gespült worden war und nun den Wunsch verspürte, die Inschrift am Fuß der Freiheitsstatue wörtlich zu nehmen und zu bleiben.
Meist waren es verzweifelte, mittellose Menschen, Flüchtlinge aus allen Weltgegenden, die in der Regel kaum Englisch sprachen und im Kampf ums Überleben ihre letzten Ersparnisse aufgebraucht hatten.
Ihr direkter Gegner, die gefürchtete Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde INS, verfuhr offenbar nach dem Grundsatz, dass neunundneunzig Komma neun Prozent aller Asylbewerber Betrüger und Schwindler seien, die man in ihre Herkunftsländer zurückschicken, also abschieben müsse.
Die Akte, die im frühen Winter 1978 auf Cal Dexters Schreibtisch landete, betraf ein aus Kambodscha geflüchtetes Ehepaar, Mr. und Mrs. Hom Moung.
In einer langatmigen, aus dem Französischen, der bevorzugten Sprache der französisch erzogenen Kambodschaner, übersetzten Erklärung schilderte Mr. Moung, der anscheinend für sie beide sprach, ihre Geschichte.
Seit 1975 herrschte in Kambodscha, wie in den USA wohl bekannt war und durch den Film Schreiendes Land später noch
bekannter werden sollte, ein Despot und Völkermörder namens Pol Pot mit seiner Armee, den Roten Khmer.
Pol Pot verfolgte das irrsinnige Ziel, sein Land in eine Art Steinzeitkommunismus zu führen. Zur Verwirklichung dieses Traums gehörte die Liquidierung aller Städter und Intellektueller, die er mit einem krankhaften Hass jagte.
Moung behauptete, er sei Rektor an einem Gymnasium in der Hauptstadt Phnom Penh gewesen und seine Frau examinierte Krankenschwester in einer Privatklinik. Damit gehörten beide zu der Gruppe, die auf der Abschussliste der Roten Khmer stand.
Als ihre Lage unerträglich wurde, tauchten sie unter und zogen von Versteck zu Versteck bei Freunden und Kollegen, bis auch der Letzte verhaftet und verschleppt worden war.
Moung beteuerte, es sei ihm unmöglich gewesen, die vietnamesische oder thailändische Grenze zu erreichen, da es auf dem Land von Roten Khmer und Spitzeln gewimmelt habe und er sich nicht als Bauer habe ausgeben können. Doch sei es ihm gelungen, einen Lastwagenfahrer zu bestechen, der sie aus Phnom Penh herausgeschmuggelt und in die Hafenstadt Kompong Son gebracht habe. Mit seinen letzten Ersparnissen habe er den Kapitän eines südkoreanischen Frachters dazu »überredet«, sie aus der Hölle, die seine Heimat geworden war, herauszuholen.
Er habe den Zielhafen der Inchon Star nicht gekannt, und er habe ihn auch nicht interessiert. Wie sich herausstellte, beförderte der Frachter eine Ladung Teakholz nach New York. Nach der Ankunft habe er nicht versucht, illegal einzureisen, sondern sich umgehend bei den Behörden gemeldet und eine Aufenthaltserlaubnis beantragt.
Am Abend vor der Verhandlung saß Dexter über den Küchentisch gebeugt, während seine Frau und seine Tochter nebenan schliefen. Diese Verhandlung war sein erster Berufungstermin überhaupt, und er wollte für die Flüchtlinge sein Bestes geben.
Nach Moungs Erklärung nahm er sich den Bescheid der Einwanderungsbehörde vor. Er war ziemlich harsch.
Herr über Wohl und Wehe in jeder US-Großstadt ist der Distriktleiter; seine Dienststelle ist die
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