Der Ramses-Code
Menelaos, herleitete. Dieser, so berichtete der antike Geschichtsschreiber Hekataios von Abdera, sei an der Küste Ägyptens gestrandet, gestorben und dort seither als Gott verehrt worden. Jean-François hielt das für Unsinn. Warum sollten die Ägypter, die Lehrmeister der antiken Nationen, einen gestrandeten Griechen vergöttern? Es gab eine alte ägyptische Küstenstadt namens Kanopus, die sicherlich ihren Namen nicht von griechischen Seefahrern borgen mußte. In Jean-François’ koptischer Ortsliste hieß sie kahi-n-nub , was in etwa »goldener Boden« beziehungsweise »goldenes Land« bedeutete.
Aber was waren die Kanopen dann, und wozu hatten sie gedient? Jean-François erhob sich, nahm den Leuchter und trat näher an die beiden Alabasterkrüge. Auf dem Deckel des einen saß ein Affenkopf, auf dem anderen das Haupt eines Schakals. Warum, fragte er sich, habe ich eigentlich noch nie hineingeschaut? Der junge Mann stellte die Kerzen ab und versuchte, den Deckel mit dem Schakalkopf abzunehmen. Draußen zuckte ein Blitz, und im Schlaglicht sah es aus, als schnappe der Wüstenhund nach Jean-François’ Hand. Er zuckte erschrocken zurück, dann mußte er lachen. »Die Totengötter Ägyptens versuchen, mich vom Blick in dieses Gefäß abzuhalten«, sagte er halblaut zu sich, aber so richtig wohl war ihm nicht mehr zumute. Von den Bergen her rollte der Donner, und es begann zu regnen.
Er nahm den Deckel ab und stellte ihn auf den Fußboden. Aus dem schwarzen Rund der Öffnung roch es modrig.
»Wie komme ich eigentlich auf Totengötter?« sagte er und hob den Leuchter, um in den Krug zu spähen. Der Lichtstrahl drang nicht sehr tief. Jean-François steckte die Hand durch die Öffnung, um zu fühlen, was sich dort befand. Der Alabasterbehälter war bis über die Hälfte mit einer festen, harzartigen Substanz gefüllt, in die der Fingernagel eindrang.Jean-François zog die Hand zurück und roch an ihr. Mumienbalsam! durchfuhr es ihn. Ich brauche einen großen Kessel mit heißem Wasser, um ihn zu verflüssigen. Vielleicht umschließt er irgendeinen Gegenstand.
Er hörte die Eingangstür des Antikenkabinettes klappen. Das mußte Pauline sein; er hatte ihr gesagt, sie möge ihn hier abholen. Sie wird sich gruseln, dachte er, und in der Tat ertönte ihre Stimme: »Jean-François? Bist du hier? Es ist so dunkel.«
»Ich bin hier, Prinzessin, warte, ich hole dich.«
Da kam sie schon selbst durch die zweite Tür, die den Hauptsaal mit dem Raum der ägyptischen Altertümer verband.
»Draußen ist ein schreckliches Wetter«, sagte sie, legte ihr nasses Plaid ab und schaute sich um. »Was machst du bloß hier, bei der Dunkelheit?« Ihr Blick fiel auf die Mumien, und sie wurde blaß. »Jean-François, mir gruselt vor denen da«, hauchte sie und schlug ein Kreuz.
»Aber warum denn, meine Liebe? Sie haben dich vor den Sardiniern beschützt.«
»Trotzdem. Wenn ich daran denke, daß ich einmal in der Dunkelheit zwischen ihnen gelegen habe …«
»Nun, besser als in den Armen dieser stinkenden Freischärler.«
»Rede nicht so«, wies sie ihn zurecht. »Es sind Leichen, nicht wahr? Das waren einmal Menschen wie du und ich.« Die Härchen auf ihren Armen standen zu Berge. »Und du sitzt nachts bei Kerzenschein mit den Toten. Was bist du bloß für ein Mensch?«
»Ein neugieriger.«
»Wollen wir nicht besser gehen? Mir ist auch etwas kalt, und du könntest mich wärmen.«
Für einen Moment standen in Jean-François Wißbegier und Wollust im Widerstreit, doch in der Gewißheit, daß letztere auch etwas später zu ihrem Recht kommen würde, entschied er sich zunächst zu ihren Ungunsten.
»Dir wird gleich warm«, sagte er, »denn ich werde ein Feuer machen. Warte hier, ich bin gleich zurück.«
»Nein, ich bleibe nicht mit diesen Mumien allein!« rief Pauline erschrocken.
»Sei nicht albern«, fuhr Jean-François sie an, dem seine Zukünftige zum ersten Mal auf die Nerven fiel. »Ich habe hier noch etwas zu tun, und so lange wirst du wohl warten können. Denke immer daran: Die sind so fest gewickelt, daß sie sich nicht rühren können.«
Wenig später kam er mit einem kupfernen keltischen Opferkessel wieder, der im Museum ausgestellt war – etwas anderes hatte er nicht auftreiben können. Hoffentlich hält das gute Stück, dachte er, es war immerhin jahrhundertelang nicht mehr in Betrieb. Er hängte den Kessel in den Kamin, füllte ihn mit Wasser, stellte die Kanope hinein und machte Feuer. Pauline, beleidigt, weil er
Weitere Kostenlose Bücher