Der Ramses-Code
tue ich keineswegs, Monsieur –«
»Exzellenz, wenn ich bitten darf! Ihre bürgerlichen Umgangsformen sind passé; jetzt gelten wieder Distinktion und Etikette.«
»Wie Sie wünschen, Exzellenz«, erwiderte Jean-François, wütend und eingeschüchtert zugleich. »Jedenfalls muß ich Ihren Vorwurf zurückweisen. Ich kann in meinem Unterricht gar keine kirchenfeindlichen Theorien verbreiten …«
»So? Warum denn nicht?«
»… weil meine Themen in Zeiten angesiedelt sind, als an die Existenz von Christentum und Kirche noch nicht einmal zu denken war.«
Der Marquis ließ den Kapaunflügel sinken, den er sich soebenin den Mund stecken wollte, und sagte triumphierend: »Da haben wir’s! Sie überführen sich selbst, obwohl Sie sich verteidigen wollen; Sie können vermutlich gar nicht anders. Oder glauben Sie, wir bemerkten es nicht, wenn Sie sich mit Ihrem geistigen Zerstörungswerk an den Wurzeln der Christenheit zu schaffen machen? Sie leugnen öffentlich die biblische Chronologie und behaupten, Gott habe nicht die Welt und den Menschen geschaffen!«
»So weit würde ich nicht gehen, aber –«
»Es ist im übrigen überhaupt nicht Ihre Aufgabe, eine« – Fontanes blickte auf ein Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag – »›Universalgeschichte der ältesten Völker‹ zu lehren. Ihr Thema sind die alten Sprachen. Oder bin ich falsch informiert?«
»Durchaus nicht, aber die alten Sprachen wurden von den alten Völkern gesprochen.«
Fontanes nahm einen Schluck aus dem Weinglas und fragte unwirsch: »Hat Gott die Welt geschaffen oder nicht?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten; Sie sollten dafür Vertreter der theologischen Fakultät zu Rate ziehen.«
»Bestreiten Sie die biblische Chronologie?«
»Nun ja, sie ist nur eine Quelle unter vielen. Ich würde sagen, ungefähr ab David kann man mit ihr rechnen.«
Der Marquis schlug mit der Faust auf den Tisch. »Also Sie bestreiten sie!« rief er. »Genau, wie es mir berichtet wurde. Sie kommen den Studenten beispielsweise mit der Chronologie eines gewissen« – er blickte wieder auf das Papier –, »eines gewissen Manetho. Wer ist dieser Kerl?«
»Ein ägyptischer Priester.«
»So klingt auch, was er behauptet, nämlich daß Ägypten schon lange vor der Weltschöpfung existierte.«
»Nicht vor der Weltschöpfung – nur vor dem biblischen Schöpfungsbericht. Wie schon gesagt, Exzellenz, bin ich kein Theologe, sondern Altertumswissenschaftler.«
»Sie sind ein politisch gefährliches Subjekt, und zwar an meiner Universität. Ohne die Ideen von Leuten wie Ihnen wären unsere Untertanen nicht zu Königsmördern geworden. Zuerst haben Voltaire, Rousseau und Konsorten mitihren Gedanken die Fundamente der Monarchie und des Staates unterhöhlt, dann kamen ihre Spießgesellen und setzten diese Theorien mit der Guillotine in die Tat um. Das passiert kein zweites Mal, Champollion, machen Sie sich keine Illusionen.«
»Pardon, Exzellenz, ich will niemanden köpfen, und ich verabscheue die Jakobiner. Ich will lediglich in Ruhe, und ohne den Tatsachen Gewalt anzutun, lehren.«
»Ich habe Ihnen gerade erklärt, daß Sie zu denen gehören, die an den Fundamenten der Kirche nagen, und wer diese beschädigt, schädigt den Staat. Ob Sie persönlich jemanden umbringen wollen oder nicht, ist dabei völlig unerheblich. Mir persönlich, das sage ich Ihnen ganz unverhohlen, wäre es am liebsten, wenn Sie aus Grenoble verschwänden. Männer wie Sie stiften nur Unfrieden, auch wenn Sie so tun, als erteilten Sie brav Unterricht. Ich weiß, daß der Präfekt und der Bürgermeister hinter Ihnen stehen und daß die Akademie sich viel zugute hält auf ihr jüngstes Mitglied, aber glauben Sie nicht, daß es ewig so bleibt. Mit jedem Tag, der seit der Abdankung des korsischen Ungeheuers verstreicht, zieht mehr Ordnung in Frankreich ein.«
Der Großmeister konzentrierte sich wieder auf sein Geflügel und schien den vor ihm Stehenden nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen.
»War das alles, was Sie mir sagen wollten«, erkundigte sich Jean-François nach einer Pause.
»Ich hoffe, Sie haben mich verstanden«, entgegnete Fontanes. »Vergessen Sie Manetho, vergessen Sie Ägypten. Die Zeiten dieser neumodischen Legenden sind vorbei. Unterrichten Sie die Chronologie gemäß der Bibel, lesen Sie mit ihren Studenten die Kirchenväter, oder treiben Sie von mir aus Koranstudien, falls das jemanden interessiert. Die Heilige Schrift ist an meiner Universität unantastbar! Im übrigen
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