Der Ramses-Code
gelungen; jetzt werde er sein Enthüllungswerk der interessierten Öffentlichkeit vorstellen. Das war insofern verwunderlich, als die altsprachliche Akademikerschaft mehrheitlich glaubte, der Mann sei verrückt geworden. Sein erschreckend-absonderlicher Auftritt im Louvre, ein unerhörter Vorfall, der sich überall herumsprach, hatte ein übriges getan, diese Annahme zu verstärken, und ohnehin hing seit Jahren der Ruch des Spekulativ-Abseitigen über dem Unterfangen der Hieroglyphen-Deutung. Nun aber war dem »Verrückten aus Grenoble«, wie man ihn hinter vorgehaltener Hand nannte, kein geringerer als Bon Joseph Dacier, Grandseigneur und ständiger Sekretär der Inschriftenakademie, zur Seite gesprungen. Das war erstaunlich und machte neugierig.
Man schrieb den 27. September 1822. Jean-François stand am Pult an der Stirnseite des hellerleuchteten Saales, in seinem einzigen, stellenweise deutlich abgewetzten Rock, glatt rasiert, das störrische Haar gestutzt, noch immer sehr mager, aber mit stolzem Blick und gestrafftem Körper. Er musterte befriedigt die Schar der Zuhörer, die vor ihm Platz genommen hatte. Alle waren gekommen: Sacy, das durchgeistigte Antlitz sphinxhaft verschleiert; der griesgrämige Langlès, Jomard, Mitherausgeber der berühmten »Description«, kränklich und verschlossen, der elegant-blasierte Quatremère, letztere nebeneinander sitzend und mit mißtrauischen Mienen ein Terzett der Neider bildend; natürlich Vivant Denon, der zur Feier des Abends den Orden der Ehrenlegion angelegt hatte (denn hätte dieser Vortrag ohne Bonapartes Ägyptenfeldzug jemals stattfinden können?), sodann Fourier, sehr erwartungsvoll, der hünenhafte Giovanni Belzoni, hinter dem ein Stuhl frei blieb, ferner der berühmte deutsche GelehrteAlexander Freiherr von Humboldt, ein ernster, blasser Herr, unter dessen breiter Stirn kluge Augen lachten, der sich gerade in Paris aufhielt und bei einem solchen Anlaß Zeuge sein wollte, aber auch Dom Raphaël, der Koptenmönch und Arabisch-Lehrer, grau geworden, still und zurückhaltend wie früher schon. Er überbrachte Jean-François Grüße von Halil Efendi Mahmud, der längst wieder in seiner ägyptischen Heimat weilte; es waren Grüße aus seinen Briefen der letzten Jahre, aber Orientalen nahmen es bekanntlich nicht so streng mit der Zeit, und bisher hatten sie ihren Adressaten ja nicht erreicht. Im Publikum saß der Herzog Blacas d’Aulps, Ratgeber und Vertrauter des Königs, das Gesicht wie Erz, ein sehr mächtiger Mann, von dem niemand wußte, was ihn hierherführte, und der auch mit niemandem sprach. Als besonderer Gast war Thomas Young gekommen, der in Paris weilte, weil er an der Eröffnung von Belzonis Austellung teilnehmen wollte, und dessen spöttisch gekräuselte Lippen nicht verbergen konnten, wie aufgeregt er war – viele hielten ihn für den Entzifferer einiger Hieroglyphen, womit dieser Abend von vornherein unter dem Signum eines geistigen Zweikampfs stand. Young hatte, den Konkurrenten am Pult flüchtig grüßend, in der zweiten Reihe Platz genommen. Mit ihm kam ein raubvogelgesichtiger, aristokratisch ausschauender, eisgrauer Alter, der als Baron Ravenglass vorgestellt wurde und den niemand hier kannte.
An die drei Dutzend weiterer Zuhörer saßen im Saal, Professoren, Gelehrte, Studenten, ein Redakteur des »Moniteur« und sogar ein Vertreter der Londoner »Times«. Jacques-Joseph hatte die Herrschaften an der Tür empfangen, sie in eine Liste eingetragen und jedem einzelnen mitgeteilt, er könne im Anschluß an den Vortrag eine lithographierte Kopie des »Briefes an Monsieur Dacier« – nach akademischer Sitte war das Werk in Form eines Briefes an eine bedeutende Person des Wissenschaftbetriebes adressiert – bei ihm in Empfang nehmen. Das Deckblatt, dessen Untertitel lautete »Vom Alphabet der phonetischen Hieroglyphen, die von den Ägyptern auf ihren Denkmälern zur Schreibung der Titel, Namen und Beinamen der griechischen und römischenHerrscher verwendet wurden«, war an der Tür angeschlagen. Wie weit Jean-François wirklich mit seiner Entzifferung gekommen war und daß er weit mehr lesen konnte als nur die Namen der späten Fremdherrscher, wußte allerdings nicht einmal Jacques-Joseph, und Jean-François hatte auch nicht vor, es an diesem Abend preiszugeben. Er wollte seine Ergebnisse erst eingehend prüfen. Daß er die Namen der römischen Kaiser in Hieroglyphen präsentieren konnte, war Sensation genug und sollte für diesen Abend
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