Der Ramses-Code
Italiener im Totental bei Theben gefunden hatte. An den Ufermauern sammelten sich die Neugierigen, um die geheimnisvollen Malereien zu bestaunen. Auf der Brücke gegenüber lief Jean-François, mit wehendem Schlafrock und wildem Blick, Hieroglyphentexte unter dem Arm, vom Fluß her grüßten Hieroglyphen, riesig groß und exotisch bunt, zu ihm empor. Er erreichte den Louvre, stürmte Treppen hinauf, blickte in fassungslose Gesichter. Die Leute stoben auseinander, sahen kopfschüttelnd der Erscheinung hinterher. Der Gedanke hämmerte in seinem Kopf, und jetzt war er klar genug, um herausgeschrien zu werden. Er erreichte den Raum, in dem Jacques-Joseph mit ein paar anderen Männern, darunter Jomard, Quatremère und der riesenhafte Belzoni, über die Ausstellungspläne gebeugt stand. Als er hereinstümte, verstummten alleund sahen ihn an, die meisten bestürzt, Quatremère höhnisch, der Bruder mit vor Mitleid schwimmenden Augen. Jean-François schmetterte seine Papiere auf den Tisch, die Ausstellungsunterlagen einfach fortfegend, rang nach Luft, hörte Jomard »Peinlich, peinlich« wispern, da platzte der Gedanke, der die ganze Zeit in seinem Hirn gehämmert hatte, aus ihm heraus: »Ich hab’s!« schrie er. »Ich hab’s! Ich hab’s!«
Die Herren starrten ihn entgeistert an. Jean-François sah, wie der Mund seines Bruders sich öffnete, sah, wie in Jacques-Josephs Augen das Mitleid einer unaussprechbaren Hoffnung wich, er nickte wie toll, als wollte er sagen: Ja, ja, glaub’s nur, es ist wahr, es ist wirklich wahr.
Dann brach er zusammen.
45
Vier Tage lag Jean-François ohne Bewußtsein. Jacques-Joseph saß an seinem Bett; nicht für eine Stunde eilte er in den Louvre hinüber, um sich um seine und Belzonis Ausstellung zu kümmern. War der Zusammenbruch des Bruders ein Resultat körperlicher Auszehrung? Schlief Jean-François? Oder war diese Ohnmacht, heftiger als alle, deren Zeuge Jacques-Joseph in Figeac geworden war, die Vorbotin eines endgültigen, finalen Dämmerzustands? Ein Arzt, den er, nachdem er mit Belzonis Hilfe den schlaffen Körper in die nahe Wohnung getragen hatte, rief, diagnostizierte einen Schlaganfall, erklärte die ärztliche Kunst für überfordert, wackelte unheilvoll mit dem Kopf und trollte sich. Armer Junge, dachte Jacques-Joseph, wenn er auf den Dahingestreckten sah, dessen abgezehrtes, von dichtem Haar und seit kurzem auch von einem Bart umstandenes Antlitz beinahe heilandsartig anmutete. Er saß am Bett wie ein Seelsorger, der die Beichte abnehmen will, aber abgelehnt wird. Immer wieder zog ihrer beider Leben in Gedanken an ihm vorbei, als gelte es, Bilanz zu ziehen, und er fürchtete sich einzugestehen, daß sie beide Gescheiterte waren. Alle hochfliegenden Pläne, alle Erfolge waren null und nichtig geworden.Ihr Ruf, insbesondere der des Bruders, war dahin. Doch was wog das gegen die Angst um seinen geistigen Zustand?
Wenigstens atmete er, und seine Hände fühlten sich halbwegs warm an.
Am fünften Tag schlug Jean-François erstmals die Augen auf, verlangte nach Wasser, trank gierig und schlief wieder ein.
Sein »Ich hab’s!« gellte Jacques-Joseph noch immer in den Ohren. Wieder und wieder studierte er den Stapel Hieroglyphen-Kopien, den der Bruder im Louvre auf den Tisch geschmettert hatte, überrascht, daß sich dergleichen druckfrische Lithographien in seinem Besitz befanden. Zwischen ihnen lagen einige lose Skizzen von Jean-François’ Hand, die er größtenteils nicht zu deuten wußte. Die Namen der Kleopatra, des Alexander und den Titel Autokrator hatte der Bruder ausbuchstabiert, nach ähnlichem Prinzip wie Thomas Young, aber doch wieder anders. Offenbar hatte er eine Spur entdeckt. Wenn er es mir bloß erklären könnte! dachte Jacques-Joseph und starrte forschend auf den reglos Liegenden. Und ich hatte ihn schon abgeschrieben! Scham stieg in ihm auf, neuer Zweifel und Wut über ihr Schicksal.
Es klopfte. Jacques-Joseph fuhr zusammen. Besuch? Hierher kam nie jemand. Er hatte Bescheid gegeben, daß er in den nächsten Tagen, solange der Zustand seines Bruders Anlaß zu äußerster Sorge gab, nicht im Louvre erscheinen würde. Wer weiß, wie man sich dort inzwischen über sie beide das Maul zerriß! Gerade dieser Quatremère!
Er ging zur Tür, öffnete – und blickte erstaunt auf Denon, Fourier und den riesenhaften Belzoni, die ernste Gesichter machten und sich erkundigten, ob Jean-François bereits ansprechbar sei.
Gerührt, daß sich jemand nach dem Befinden des
Weitere Kostenlose Bücher