Der Ramses-Code
genügen.
Als die Schrift fertig gewesen war, hatte Jacques-Joseph sie mit Bitte um Vortragszulassung Dacier überreicht. Jean-François wollte sein Werk jenem Mann widmen, der seinem Bruder den Wiedereintritt ins gelehrte Leben verschafft hatte. Der Greis hatte sich an die zwanzig Minuten in den Text vertieft, eine bange Zeitspanne für den Überbringer; dann hatte Dacier sehr fest, sehr würdevoll, fast pathetisch gesprochen, es sei ein großer Augenblick für ihn, das noch lesen und erleben zu dürfen, er werde zum schnellstmöglichen Termin den Vortrag anberaumen, die Schrift umgehend lithographieren und so schnell wie möglich auch drucken lassen.
Die Saaltür wurde geschlossen. Dacier trat ans Pult, hinter dem eine Schiefertafel aufgestellt war, versprach, daß man einem Abend von historischer Bedeutung beiwohnen werde, und übergab das Wort an die Hauptperson.
»Meine Herren«, begann Jean-François, und erst jetzt bemerkte er, wie aufgeregt er war unter all diesen Blicken, die sich auf ihn konzentrierten, erwartungsvolle, neugierige, skeptische, mißtrauische, böse. Wie lange hatte er auf diesen Tag gewartet! Wie verzweifelt auf ihn hingearbeitet! Nun spürte er, daß Hände und Knie ihm zitterten, und fürchtete, wieder ohnmächtig zu werden. Vor seinen Augen flimmerte es, das Bild des Saales verschwamm, Gesichter und Leuchter flossen ineinander. Er stütze sich am Pult ab und hörte sich sagen: »Der Anlaß, warum ich Sie zu dieser Versammlung bitten ließ, ist der, daß ich Ihnen heute abend einen Schritt präsentieren möchte, für den ich 15 Jahre Anlauf nehmen mußte. Ich werde, so viel sei versprochen, Ihr Interesse nichtenttäuschen.« Er legte eine Pause ein, räusperte sich und atmete schwer. »Mir ist es gelungen, die ersten ägyptischen Hieroglyphen korrekt und schlüssig zu entziffern.«
In der zweiten Reihe, wo Young und Ravenglass saßen, entstand Unruhe. Jean-François kam zu sich. Er starrte auf seinen englischen Konkurrenten, der noch nicht wußte, nicht wissen konnte, daß er besiegt war, widerlegt, ad absurdum geführt. Als wieder Ruhe eingetreten war, sagte er, nunmehr ohne das leise Zittern in der Stimme, welches seine ersten Worte begleitet hatte: »Ich weiß, daß Professor Thomas Young aus London, der heute freundlicherweise anwesend ist, genau das bereits für sich in Anspruch nimmt. Allerdings bin ich zu einem Resultat gelangt, das seine Lesarten nicht nur in Zweifel stellt, sondern sogar schlüssig korrigiert.«
Young warf die Lippen auf und blies vernehmlich Luft aus. Belzoni stieß einen Laut des Erstaunens aus und beugte sich zu seinem Nachbarn. Einen Moment nahm Jean-François hinter dem Rücken des Riesen etwas wahr, das ihn irritierte, aber er war viel zu sehr mit seiner Argumentation beschäftigt, um sich darüber klarzuwerden, worum es sich handelte. Er zögerte einen Moment, fortzufahren, konzentrierte sich und sagte: »Das vor Jahrhunderten unlesbar gewordene Schriftssystem der Ägypter hat im Laufe seines langen Schweigens vielerlei Interpretationen erfahren, die meistens den wahren Sachverhalt vernebelt statt erhellt haben. Ich selbst habe auch einmal mit Horapollo geglaubt, es handele sich um eine Symbolschrift, die nur von Eingeweihten gedeutet werden könne. Als mysteriös erwies sich zudem die Beziehung der ägyptischen Schriften untereinander sowie ihre Anzahl. Die Meinungen der antiken Schriftsteller darüber gingen bekanntlich auseinander, sie behaupteten, es hätten zwei, drei oder gar vier Schriftsysteme existiert. Inzwischen ist mir klar, daß es drei Schriftarten gab, denen allerdings dasselbe System zugrunde lag: zwei Kursive und die Hieroglyphen selbst …«
» Zwei Kursive?« zischelte jemand erstaunt.
»In der Tat«, fuhr der Redner fort. »Ich nenne sie die hieratische und die demotische. Beide unterscheiden sich nichtin ihrem Zeichenbestand, sondern nur in der Art, die Zeichen zu schreiben, in der Kalligraphie sozusagen. Das beschreibt auch ihren Unterschied zu den Hieroglyphen: Jedem demotischen Zeichen entspricht ein hieratisches und ein hieroglyphisches – und umgekehrt. Die alten Ägypter besaßen nur ein Schriftsystem, das sie, je nach Anlaß, ob profan, ob heilig, in verschiedener Ausführung verwendeten, und der Weg zu ihm zurück führt über das Koptische.«
Diesmal waren es Langlès, Jomard und Quatremère, die, vernehmbar wispernd und den Vortrag störend, die Köpfe zusammensteckten. Jean-François tat, als bemerke er es
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