Der Raritätenladen
schließt die Natur oft kühne und edle Herzen in schwache Busen ein – am öftesten aber, Gott segne sie, in die Brust des Weibes –, und sobald die Kleine, die ihr tränenvolles Auge auf den alten Mann richtete, daran dachte, wie schwach er sei, wie verlassen und hilflos er sein würde, wenn sie ihn im Stich ließe, da schwoll ihr das Herz an, und aufs neue stählten Kraft und Mut ihre Seele.
»Wir sind jetzt ganz sicher und haben gewiß nichts mehr zu fürchten, lieber Großvater«, sagte sie.
»Nichts zu fürchten?« entgegnete der alte Mann. »Nichts zu fürchten, wenn man dich von mir reißt? Nichts zu fürchten, wenn man uns trennt? Ach, niemand ist mir treu, nein, niemand! Nicht einmal Nell!«
»O sprechen Sie nicht so«, versetzte das Kind; »denn wenn jemand treu und aufrichtig an Ihnen hängt, so tue ich es. Ich bin überzeugt, daß Sie dies selber auch recht gut wissen.«
»Aber wie kannst du dann«, fuhr der alte Mann fort, indem er scheu umherblickte, »wie kannst du dann auf den Gedanken kommen, daß wir sicher sind, wenn man von allen Seiten nach mir späht, wenn man hierherkommt und sich an uns heranstiehlt, während wir hier reden?«
»Aus dem einfachen Grunde, weil ich sicher weiß, daß wir nicht verfolgt werden«, sagte das Kind. »Überzeugen Sie sich doch selbst, lieber Großvater! Blicken Sie umher und schauen Sie nur, wie still und ruhig alles ist! Wir sind allein miteinander und können gehen, wohin wir wollen. Nicht sicher? Könnte ich ruhig sein – war ich es denn –, wenn Sie von einer Gefahr bedroht wären?«
»Du hast recht, du hast recht«, antwortete er, indem er ihr die Hand drückte, aber noch immer ängstlich umherschaute. »Was war das für ein Ton?«
»Ein Vogel ist in das Gehölz geflogen«, sagte das Kind, »und wollte uns den Weg zeigen. Erinnern Sie sich noch, daß wir sagten, wir wollten in Wäldern, Feldern und an den Flüssen hin wandern, und wie glücklich wir dann sein würden, erinnern Sie sich? Und doch sitzen wir jetzt traurig beisammen und verlieren die Zeit, während die Sonne über unsern Häuptern scheint und alles froh und glücklich ist. Sehen Sie nur, wie schön der Weg ist! Und da ist der Vogel, der nämliche Vogel; jetzt fliegt er zu einem andern Baume und bleibt dort, um zu singen. Kommen Sie!«
Als sie vom Boden aufstanden und den schattigen Pfad einschlugen, der durch den Wald führte, sprang ihm Nell voraus, indem sie ihre kleinen Fußtapfen im Moos zurückließ, das sich elastisch unter dem leichten Druck wieder erhob und, dem Hauch auf dem Spiegel gleich, bald keine Spur mehr sehen ließ. Und so lockte sie den alten Mann weiter, indem sie oft zurückblickte, ihm fröhlich winkte, ihn bald vorsichtig auf einen einsamen Vogel aufmerksam machte, der von einem ihren Weg kreuzenden Zweige herunterzwitscherte, bald stehenblieb, um auf die frohen Lieder zu hören, welche die Stille unterbrachen, oder die Sonnenstrahlen zu beobachten, wie sie durch die Blätter zitterten und zwischen den von Efeu umzogenen Stämmen kräftiger alter Bäume sich hinstehlend lange Lichtpfade öffneten. Als sie so, die Zweige auf ihrem Wege zurückbiegend, weiterkamen, schlich sich allmählich die Heiterkeit, die das Kind anfangs geheuchelt hatte, nun wirklich in Nellys Brust; der alte Mann warf nicht länger furchtsame Blicke hinter sich, sondern fühlte sich leicht und wohl, und je tiefer sie in die grünen Schatten eindrangen, desto mehr kam es ihnen zum Bewußtsein, daß hier der ruhige Geist Gottes waltete und sie mit seinem Frieden umwob.
Endlich wurde der Pfad lichter und weniger verworren, sie
gelangten an die Grenze des Gehölzes und von da aus auf die Landstraße. Nachdem sie eine kleine Strecke auf ihr gegangen waren, kamen sie an einen Feldweg, der zu beiden Seiten so von Bäumen beschattet wurde, daß die Kronen oben zusammenstießen und den Pfad überwölbten. Ein zerbrochener Wegweiser verkündete ihnen, daß dieser Weg nach einem drei Meilen entfernten Dorfe führe, und dorthin beschlossen sie ihre Schritte zu lenken.
Die Meilen kamen ihnen so lang vor, daß sie einigemal glaubten, sie hätten sich verirrt. Endlich aber ging es, zu ihrer großen Freude, einen steilen Hohlweg hinab, an dessen überhängenden Seiten die Fußpfade hinführten, und die Häusergruppen des Dorfes schauten aus dem grünen Tal herauf.
Es war nur ein sehr kleiner Ort. Die männliche Jugend spielte im Freien Kricket, und da die andern Leute zusahen, so wanderten unsere beiden
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