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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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sie sich bisweilen vor den wilden Buben ein wenig fürchtete. Nach dem Lesen kam das Schreiben, und da kein anderes Pult als das des Lehrers da war, so setzten sich die Jungen der Reihe nach daran und mühten sich mit ihrem Gekritzel ab, während der Schulmeister umherspazierte. Dabei ging es etwas ruhiger zu; denn er kam immer heran, sah dem Schreiber über die Schulter und machte ihn sanft darauf aufmerksam, wie dieser und jener Buchstabe in der Schrift an der Wand gezogen sei, lobte an ihr bald da den Haarstrich, bald dort den Grundstrich und hieß ihn, sich ein Beispiel an ihnen zu nehmen. Hin und wieder hielt er auch inne und sagte seinen Zöglingen, was das kranke Kind gestern abend gesprochen und wie es sich gesehnt habe, wieder einmal unter ihnen zu sein; kurz,
der arme Schulmeister betrug sich so zart und liebevoll, daß die Knaben ordentliche Gewissensbisse über ihre früheren Quälereien zu empfinden schienen und sich vollkommen ruhig verhielten, keine Äpfel aßen, keine Namen einschnitten, einander nicht zwickten und keine Grimassen machten – volle zwei Minuten lang.
    »Ich denke, Kinder«, sagte der Schulmeister, als die Glocke zwölf schlug, »ich will euch diesen Nachmittag eine Extravakanz geben.«
    Auf diese Nachricht erhoben die Knaben unter Anführung des langen Jungen ein lautes Jubelgeschrei, während dessen man den Schulmeister wohl sprechen sah, aber nicht hörte. Als er jedoch seine Hand aufhob zum Zeichen des Wunsches, daß sie sich stille verhalten sollten, waren sie rücksichtsvoll genug, aufzuhören, sobald derjenige unter ihnen, der den besten Blasebalg besaß, außer Atem war.
    »Ihr müßt mir aber vorerst versprechen«, fuhr der Schulmeister fort, »daß ihr keinen Lärm machen oder wenigstens, wenn ihr dies im Sinne habt, hinausgehen wollt – ich meine vor das Dorf hinaus. Ihr werdet doch gewiß euern alten Schul- und Spielkameraden nicht aufregen wollen.«
    Ein allgemeines Gemurmel – und wohl ein sehr aufrichtiges, denn es waren ja nur Kinder – erhob sich, sie wollten es gewiß nicht tun, und der lange Junge, der es vielleicht so ehrlich wie irgendeiner unter ihnen meinte, rief alle Anwesenden zu Zeugen auf, daß er nur ganz leise geschrien habe.
    »Ich bitte euch daher, meine lieben Kinder«, sagte der Schulmeister, »vergeßt nicht, was ich von euch verlangt habe, und tut es mir zu Gefallen. Seid so fröhlich als möglich, aber vergeßt auch nicht dabei, daß ihr mit Gesundheit gesegnet seid. Gott behüte euch alle!«
    »Danke, Sir!« und »Gott befohlen, Sir!« klang es nun hoch
und tief aus einem Dutzend Kehlen, und die Knaben entfernten sich sehr langsam und leise. Aber da schien die Sonne, und da sangen die Vögel, wie sie dies nur an halben und ganzen Vakanztagen tun; da winkten die Bäume allen freigelassenen Jungen zu, hinanzuklimmen und unter ihren laubigen Zweigen zu nisten; das Heu bat sie, zu kommen und es in der reinen Luft auszustreuen; die grünen Saatfelder deuteten mit leisem Nicken auf Wald und Strom hin; der glatte, weiche Boden, der noch weicher schien durch die ineinanderfließenden Lichtschatten, verlockte zu Sprüngen und Sätzen und zu langen Spaziergängen, Gott weiß wohin! Dies war mehr, als ein Knabe ertragen konnte, und mit freudigem Jubel eilte die ganze Bande davon und tummelte sich lärmend und lachend umher.
    »Das ist Natur, Gott sei Dank!« sagte der arme Schulmeister, als er ihnen nachblickte. »Es freut mich recht, daß sie sich nicht an meine Worte kehrten.«
    Es ist jedoch schwer, es jedermann recht zu machen, wie die meisten von uns wohl auch ohne die Fabel entdeckt haben werden, die diese Moral birgt. Und im Laufe des Nachmittags machten mehrere Mütter und Tanten von Zöglingen ihren Besuch, um über das Vorgehen des Schulmeisters ihre höchste Mißbilligung auszudrücken. Einige beschränkten sich auf Andeutungen, indem sie etwa höflich fragten, was für ein rotgedruckter Tag oder welches Heiligenfest denn im Kalender stehe; andere – und diese gehörten zu den tiefen Dorfpolitikern – folgerten, es sei eine Geringachtung des Thrones, eine Beleidigung für Kirche und Staat und schmecke nach revolutionären Prinzipien, bei einem geringeren Anlasse als dem Geburtstage des Monarchen einen halben Vakanztag zu geben; aber die Mehrzahl drückte ihr Mißfallen, das durch ganz persönliche Gründe hervorgerufen wurde, unverhohlener aus, in
dem sie meinte, eine solche Verkürzung des Unterrichts sei nichts anderes als ein Akt offenen

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