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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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wahr?«
    Der Knabe lächelte matt, so ganz, ganz matt, und legte seine Hand auf das graue Haupt seines Freundes. Auch seine Lippen bewegten sich, aber es kam keine Silbe hervor, nein, nicht ein Laut. In das nun herrschende Schweigen drang das Summen ferner Stimmen, von leichten Abendlüften getragen, durch das offene Fenster.
    »Was ist das?« fragte das Kind, die Augen öffnend.
    »Die Knaben spielen auf der Wiese.«
    Der Kleine nahm ein Taschentuch von seinem Kissen und machte den Versuch, es über seinem Haupte zu schwingen; aber der schwache Arm sank kraftlos nieder.
    »Soll ich es tun?« fragte der Schulmeister.
    »Ja, seid so gut, aber an dem Fenster«, lautete die matte Antwort. »Bindet es an das Gitter! Vielleicht sehen es einige von dort aus. Sie denken vielleicht an mich und schauen in diese Richtung!«
    Er erhob den Kopf und blickte von dem flatternden Signal auf sein müßiges Raket, das neben der Schiefertafel, dem Buche und dem sonstigen Eigentum des Knaben auf einem in der Kammer stehenden Tische lag. Dann legte er sich abermals sachte nieder und fragte, ob das kleine Mädchen noch da wäre, denn er konnte es nicht sehen.
    Nell trat vor und drückte die widerstandslose Hand des Kranken, die auf der Bettdecke lag. Die zwei alten Freunde und Gefährten, denn das waren sie, obgleich der eine ein Mann, der andere ein Kind war, hielten einander in langer Umarmung fest; dann wandte der kleine Schüler sein Gesicht gegen die Wand und schlief ein.
    Der arme Schulmeister blieb auf derselben Stelle sitzen, hielt die kleine, kalte Hand in der seinigen und wärmte sie. Es war nur die Hand eines toten Kindes. Er fühlte dies, und doch wärmte er sie noch immer und konnte sie nicht weglegen.

Sechsundzwanzigstes Kapitel
    Nells Herz brach fast vor Weh, als sie mit dem Schulmeister das Sterbebett verließ und in dessen Hütte zurückkehrte. Aber mitten in ihrem Gram und ihren Tränen war das Mädchen sorgfältig bemüht, die wahre Ursache derselben vor dem alten Manne geheimzuhalten; war doch der tote Knabe ein Enkel gewesen und ließ nur eine einzige betagte Verwandte zurück, die seinen frühen Heimgang betrauern mußte.
    Sie schlich sich so bald als möglich ins Bett, und als sie allein war, machte sie dem Kummer, der ihre Brust belastete, durch Tränen Luft. Die traurige Szene, deren Zeuge sie gewesen, war jedoch nicht ohne Lehre für sie, indem sie sie ermahnte, zufrieden und dankbar zu sein – zufrieden mit dem
Schicksal, welches ihr Gesundheit und Freiheit gegeben hatte, und dankbar, daß sie dem einzigen Verwandten und Freunde, den sie liebte, erhalten blieb und daß sie in einer so schönen Welt leben und sich regen durfte, während viele junge Geschöpfe, so jung und hoffnungsvoll wie sie selber, geknickt und heimgerufen wurden. Wie mancher Rasen des alten Kirchhofs, in dem sie kürzlich auf und ab gewandert war, grünte über den Gräbern von Kindern! Und obgleich sie noch ganz wie ein Kind dachte und vielleicht nicht hinreichend überlegte, zu welchem schönen und glücklichen Dasein diejenigen geboren sind, die jung sterben, und wie sie der Tod vor dem Schmerz bewahrt, andere um sich her sterben zu sehen, die irgendein starkes Gefühl zu Grabe tragen – was Menschen von langer Lebensdauer mehrmals sterben läßt –, war sie doch klug genug, eine einfache, naheliegende Moral aus dem zu schöpfen, was sie diesen Abend gesehen hatte, und sie tief in ihrem Herzen zu bewahren.
    Sie träumte von dem kleinen Schüler; er war nicht eingesargt und mit Laken bedeckt, sondern inmitten einer Engelschar, mit einem glücklichen Lächeln auf seinem Antlitz. Die Sonne goß ihre heiteren Strahlen in die Stube und weckte sie; und nun blieb es ihr noch vorbehalten, von dem armen Schulmeister Abschied zu nehmen und wieder einmal den Wanderstab zu ergreifen.
    Als sie reisefertig waren, hatte die Schule bereits angefangen. In der düsteren Stube war es wieder so geräuschvoll wie gestern – vielleicht ging es etwas weniger wild und unbändig zu, doch war der Unterschied sehr gering, wenn überhaupt einer zu bemerken war. Der Schulmeister stand von seinem Pulte auf und begleitete sie bis zur Gartentür.
    Mit zitternder, widerstrebender Hand bot ihm Nelly das Geld an, das ihr die Dame beim Wettrennen für die Blumen
gegeben hatte; sie stammelte ihren Dank und errötete, als sie es hinhielt, denn die Summe kam ihr gar zu unbedeutend vor. Er verlangte jedoch, daß sie es wieder einstecke, beugte sich nieder, um ihre Wangen zu

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