Der Raritätenladen
ganze Nacht über durch häufiges, schreckliches Auffahren unterbrochen; denn Quilp zog sich durch ihre unruhigen Träume und erschien irgendwie in Verbindung mit dem Wachsfigurenkabinett, bald selbst als Wachsfigur, bald als Madame Jarley und Wachsfigur zugleich oder als er selbst, als Madame Jarley, als Wachsfigur und als Drehorgel, alles in einem und doch wieder keins von ihnen ganz deutlich. Endlich gegen Anbruch des Tages kam jener tiefe Schlaf über sie, der gewöhnlich der Ermattung und dem Nachtwachen folgt und der kein anderes Bewußtsein mit sich bringt als das eines überwältigenden, unwiderstehlichen Genusses.
Achtundzwanzigstes Kapitel
Ungewöhnlich lange lag der Schlaf auf den Augenlidern der Kleinen, so daß bei ihrem Erwachen Madame Jarley bereits in ihrem großen Hute prangte und sehr rührig mit Zurüstungen zum Frühstück beschäftigt war. Sie nahm Neils Entschuldigungen für ihren langen Schlaf in vollkommen guter Laune hin und sagte, sie würde sie nicht geweckt haben und wenn sie bis zum Nachmittag geschlafen hätte.
»Weil es dir guttut«, fügte die Karawanendame hinzu. »Wenn du müde bist, schlafe so lange, wie du immer kannst, um deine Ermattung ganz loszuwerden. Das ist auch eine von den Segnungen deines Alters, du kannst sogar gesund schlafen.«
»Haben Sie eine schlimme Nacht gehabt, Madame?« fragte Nell.
»Ich habe selten eine andere, Kind«, versetzte Madame Jarley mit der Miene einer Leidensschwester. »Es nimmt mich oft wunder, wie ich es nur ertragen kann.«
Nell erinnerte sich des Schnarchens, das durch den Spalt in der Wagenwand hervorgedrungen war, hinter der die Eigentümerin des Wachsfigurenkabinetts ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte, und dachte daher beinahe, es müsse der Dame wohl im Traume so vorgekommen sein, daß sie nicht schlafen könne. Sie drückte ihr jedoch bloß ihr großes Bedauern aus, einen so traurigen Bericht über ihren Gesundheitszustand hören zu müssen, und bald nachher setzte sie sich mit ihrem Großvater und Madame Jarley zum Frühstück. Sobald dieses beendigt war, half Nelly die Tassen spülen, stellte sie an ihre Plätze, und nachdem diese häuslichen Pflichten erfüllt waren, hüllte sich Madame Jarley in einen schreiend bunten Schal, um einen Spaziergang durch die Stadt zu machen.
»Der Wagen mit den Kasten wird bald nachfolgen«, sagte
Madame Jarley, »und dann wirds besser sein, Kind, wenn du mitfährst. Ich muß, sehr gegen meinen Willen, den Weg zu Fuß machen, aber die Leute erwarten es von mir, und öffentliche Persönlichkeiten dürfen in solchen Angelegenheiten nicht frei über sich verfügen. Wie sehe ich aus, Kind?«
Nell gab eine befriedigende Antwort, und Madame Jarley, nachdem sie mit einer ziemlichen Anzahl Nadeln die verschiedentlichsten Bestandteile ihrer äußern Erscheinung bespickt und mehrere verunglückte Versuche gemacht hatte, ihren Rücken vollständig zu besehen, war endlich mit ihrem Äußern zufrieden und ging majestätisch von hinnen.
Der Wagen folgte in einer geringen Entfernung. Während er so durch die Straßen holperte, blickte Nell zum Fenster hinaus, denn sie wollte doch auch wissen, wie der Ort aussähe, in dem sie nun waren, obschon sie in beständiger Furcht schwebte, bei jeder Straßenbiegung Quilps gefürchtetem Gesicht zu begegnen. Es war eine hübsche, große Stadt mit einem offenen, viereckigen Platze, über den sie eben langsam dahinfuhren und in dessen Mitte das Rathaus mit einem Glockenturm und einem Wetterhahn stand. Da gab es Häuser von Stein, Häuser aus roten und Häuser aus gelben Ziegeln, Häuser aus Latten und Mörtel und Häuser aus Holz, von denen viele sehr alt waren und verwitterte, in das Gebälk geschnittene Gesichter aufwiesen, die auf die Straße hinunterstarrten. Sie hatten sehr kleine, blinzelnde Fenster und niedrig gewölbte Türen, und in etlichen der engeren Gäßchen neigten sie sich sogar über den Gehweg vor. Die Straßen waren sehr reinlich, sehr sonnig, fast menschenleer und sehr langweilig. Ein paar Pflastertreter lungerten um die zwei Wirtshäuser, den leeren Marktplatz und die Ladentüren, und einige alte Leute schlummerten vor der Mauer des Armenhauses in Stühlen; aber es ging kaum ein Mensch vorbei, der irgendeinem bestimmten Ziel
zuzusteuern oder bei seinem Gange einen besondern Zweck im Auge zu haben schien, und wenn dies zufällig einmal der Fall war, so hallten seine Fußtritte auf dem heißen, glänzenden Pflaster noch minutenlang nach. Nichts schien hier
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