Der Raritätenladen
und nur zufällig dort wärest.«
»Wir waren auch nur zufällig dort«, entgegnete Nell, verwirrt über dieses plötzliche Verhör. »Wir sind arme Leute und wandern eben so umher. Wir haben nichts zu tun; ich wünschte, wir hätten etwas zu tun.«
»Du setzest mich immer mehr und mehr in Erstaunen«, erwiderte Madame Jarley, nachdem sie eine Weile ebenso stumm wie eine ihrer Figuren dagesessen hatte. »Was seid ihr denn eigentlich? Doch nicht Bettler?«
»Ich weiß wirklich nicht, ob wir etwas anderes sind, Madame«, versetzte das Kind.
»Ei du mein Himmel!« rief die Karawanendame, »so etwas habe ich doch in meinem Leben nicht gehört! Wer hätte das auch gedacht!«
Nach diesem Ausruf folgte eine so lange, stumme Pause, daß Nell fürchtete, die Dame halte es für eine Verletzung ihrer Würde, die durch nichts mehr gutgemacht werden könne, daß sie sich hatte bewegen lassen, so arme Leute mit ihrem Schutz und ihrer Unterhaltung zu beglücken. Diese Meinung wurde auch ziemlich durch den Ton bestätigt, in dem ihre bisherige Wohltäterin endlich das Schweigen unterbrach und sagte:
»Und doch kannst du lesen, vermutlich auch schreiben; es sollte mich nicht wundern.«
»Ja, Madame«, versetzte das Kind, das durch dieses Bekenntnis neuen Anstoß zu geben fürchtete.
»Nun, und was das heißen will«, entgegnete Madame Jarley, »ich kanns nicht!«
Nell rief »oh!« in einem Ton, der entweder sagen wollte, daß sie berechtigterweise darüber erstaunt sei, die einzige und echte Jarley, das Entzücken des hohen Adels und des verehrlichen
Publikums und das besondere Schoßkind der Königlichen Familie könnte mit solchen allgemeinen Künsten nicht vertraut sein, oder auch, daß sie annehme, eine so große Dame brauche sich eben so gewöhnliche Fertigkeiten nicht anzueignen. In welchem Sinne aber auch Madame Jarley diesen Ausruf auffassen mochte, er veranlaßte sie zu keinen weiteren Fragen oder bewog sie zu keinen sonstigen Bemerkungen; denn sie versank in gedankenvolles Schweigen und verharrte so lange in diesem Zustand, daß Nell sich an das andere Fenster zu ihrem Großvater zurückzog, der inzwischen erwacht war.
Endlich schüttelte die Karawanendame ihre nachdenkliche Stimmung ab und rief den Fuhrmann an ihr Fenster, mit dem sie sich lange flüsternd besprach, als ob sie hinsichtlich eines wichtigen Punktes seinen Rat einhole und dabei das Für und Wider einer bedeutenden Angelegenheit eifrig erwäge. Als endlich diese Rücksprache ein Ende genommen hatte, zog sie den Kopf wieder zurück und winkte Nell, heranzukommen.
»Und der alte Herr auch«, sagte Madame Jarley, »denn ich habe ein Wörtchen mit ihm zu sprechen. Wünschten Sie wohl eine gute Stellung für Ihre Enkelin? Wenn das der Fall ist, kann ich ihr dabei behilflich sein. Was sagen Sie dazu?«
»Ich kann sie nicht verlassen«, antwortete der alte Mann. »Wir können uns nicht trennen. Was würde aus mir werden ohne sie?«
»Ich hätte geglaubt, Sie wären nun alt und vernünftig genug, um für sich selbst sorgen zu können, wenn Sie überhaupt vernünftig werden können«, entgegnete Madame Jarley in scharfem Tone.
»Aber er wird es nie werden«, flüsterte das Kind ernst. »Ich fürchte, er wird es nie wieder werden. Bitte, reden Sie nicht hart mit ihm! Wir sind Ihnen sehr zu Danke verpflichtet«, fügte sie laut hinzu, »aber keins von uns kann sich von dem an
dern trennen, und wenn alle Reichtümer der Welt zwischen uns geteilt würden.«
Madame Jarley war etwas verblüfft über diese Aufnahme ihres Vorschlags und blickte den alten Mann, der Nells Hand zärtlich in der seinigen hielt, in einer Weise an, als könnte sie recht wohl seine Gesellschaft oder überhaupt seine Existenz auf Erden entbehren. Nach einer bedrückenden Pause steckte sie abermals den Kopf zum Fenster hinaus und hatte mit dem Kutscher eine weitere Unterredung, über deren Thema sie sich aber augenscheinlich nicht so rasch einigen konnten wie über das frühere. Endlich kam es aber doch zu einer Entscheidung, und sie redete aufs neue den Großvater an.
»Wenn Sie wirklich geneigt sind, eine Beschäftigung zu ergreifen, gäbe es eine Menge für Sie zu tun«, sagte Madame Jarley; »Sie können die Figuren abstäuben helfen, die Billette abnehmen und so weiter. Ihre Enkelin soll den Leuten die Figuren erklären; sie sind leicht zu merken. Das Mädchen hat etwas an sich, das den Besuchern gewiß gefallen dürfte, obgleich ich ihre Vorgängerin war; denn ich war stets
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