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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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den Blick von der Schönheit und Anmut des Mädchens auf die gebeugte Gestalt, das abgehärmte Gesicht und die müde Erscheinung des alten Mannes zu richten. Was mußte aus diesem einsamen kleinen Wesen werden, wenn er schwächer und immer schwächer wurde? Er war zwar nur ein armseliger Beschützer; aber wenn er starb – was würde dann ihr Los sein?
    Der alte Mann schien fast auf meine Gedanken zu antworten, als er seine Hand auf die ihrige legte und sprach:
    »Ich will den Mut nicht länger sinken lassen, Nell. Es muß dir noch ein schönes Glück vorbehalten sein – ich wünsche es nicht für mich, sondern um deinetwillen. Es muß ja ohnehin so viel Elend auf dein unschuldiges Haupt fallen, daß ich nicht anders glauben kann, als daß das Glück sicherlich noch einmal kommen wird, wenn man es nur versucht.«
    Sie sah heiter zu seinem Gesichte auf, ohne eine Antwort zu geben.
    »Wenn ich«, fuhr er fort, »wenn ich an die vielen Jahre denke – viel für dein kurzes Leben –, die du allein bei mir zugebracht hast, an dein einförmiges Dasein, ohne Altersgenossen für deine kindlichen Spiele zu kennen; an die Abgeschiedenheit, in der du wurdest, was du bist, und in der du fern von fast jedem Menschen lebtest, einen einzigen alten Mann ausgenommen – ach, dann fürchte ich bisweilen, nicht an dir gehandelt zu haben, wie ich es hätte tun sollen, Nell.«
    »Großvater!« rief das Kind mit ungeheucheltem Erstaunen.
    »Nicht absichtlich – nein, nein«, sagte er. »Ich habe immer der Zeit entgegengesehen, die dich in den Stand setzen würde, mit den Frohesten und Schönsten zu verkehren und unter den Besten deinen Platz einzunehmen. Aber ich harre noch immer, Nell – ich harre noch immer. Und wenn ich genötigt wäre, dich zu verlassen – wie habe ich dich inzwischen für die Kämpfe der Welt vorbereitet? Der arme Vogel dort wäre ebensogut imstande, sich in ihr Gewühl zu stürzen und sich ihrer Gnade anheimzugeben … Horch! Ich höre Kit draußen. Geh zu ihm, Nell, geh zu ihm!«
    Sie erhob sich und wollte forteilen; dann aber blieb sie stehen, kehrte wieder um und schlang die Arme um den Hals des alten Mannes, worauf sie ihn losließ und abermals weg
eilte, diesmal aber schneller, um ihre hervorströmenden Tränen zu verbergen.
    »Ein Wort ins Ohr, Sir«, begann der Alte mit einem raschen Flüstern. »Was Sie mir letzthin sagten, hat mich unruhig gemacht, und ich kann bloß zur Entschuldigung vorbringen, daß ich alles in der besten Absicht tat, daß es jetzt zu spät ist, es zu ändern, selbst wenn ich könnte – obgleich dies nicht der Fall ist –, und daß ich doch noch zu triumphieren hoffe. Alles geschieht nur um ihretwillen. Ich selbst habe die Bitterkeit der Armut ertragen und möchte ihr das Leid ersparen, das den Mangel begleitet. Ich möchte sie von dem Elend verschont wissen, das ihrer Mutter, meiner lieben Tochter, ein frühes Grab bereitete. Ich möchte sie zurücklassen – nicht mit Hilfsquellen, die leicht erschöpft und vergeudet sind, sondern mit solchen, die sie für immer gegen die Möglichkeit der Not schützen. Sie verstehen mich, Sir? Sie soll sich nicht mit einer Kleinigkeit begnügen müssen, sondern soll ein Vermögen … Pst! Ich kann weder jetzt noch zu einer andern Zeit mehr sagen – und da kommt sie schon wieder.«
    Der Eifer, mit dem er mir dies ins Ohr flüsterte, die zitternde Hand, mit der er meinen Arm umfaßte, die starren, hervorgequollenen Augen, die er auf mich richtete, die wilde Heftigkeit und Aufgeregtheit seines Benehmens – alles dies erfüllte mich mit Staunen. Was ich gehört und gesehen, zum Teil auch von ihm selbst erfahren hatte, ließ mich vermuten, daß er ein reicher Mann sei. Seinen Charakter konnte ich nur dann verstehen, wenn ich in ihm eines jener elenden Wesen sah, die, nachdem sie den Gelderwerb zu ihrem einzigen Lebenszweck gemacht und es so weit gebracht haben, große Reichtümer aufzuhäufen, beständig von der Furcht vor Verarmung gequält werden und ohne Unterlaß von Verlusten und Ruin träumen. Manches von dem, was mir in seinen Worten unverständlich
geblieben, ließ sich recht gut mit dieser Annahme vereinigen, und endlich zweifelte ich nicht im geringsten mehr, daß ich es hier mit einem Unglücklichen dieser Art zu tun hätte.
    Diese Ansicht war nicht das Ergebnis einer hastigen Erwägung, zu der ich in der Tat damals keine Gelegenheit hatte, denn das Kind kam jetzt wieder zurück und schickte sich an, Kit Unterricht im Schreiben zu

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