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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Haaren floh sie an das Bett des alten Mannes, umfaßte seine Hände und weckte ihn aus dem Schlafe.
    »Wer ist da!« schrie er, im Bett auffahrend und die Blicke auf das gespensterbleiche Gesicht des Kindes heftend.
    »Ich habe einen schrecklichen Traum gehabt«, rief das Kind
mit einer Kraft, die nur das höchste Entsetzen ihm einflößen konnte, »einen schrecklichen, fürchterlichen Traum! Ich träumte ihn schon früher einmal! Ich sehe dann immer drei Grauhaarige wie Sie, die im finstern Zimmer bei Nacht die Schlafenden ihres Geldes berauben. Auf, auf!«
    Der alte Mann zitterte an allen Gliedern und faltete die Hände wie zum Gebet.
    »Nicht zu mir«, sagte das Kind, »nicht zu mir, nein, zum Himmel, daß er uns vor solchen Taten bewahre! Dieser Traum ist zu lebhaft. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht hierbleiben, ich kann Sie nicht allein unter dem Dache lassen, unter dem mich solche Träume beschleichen. Auf! Wir müssen fliehen!«
    Er blickte sie an, als ob sie ein Gespenst wäre – sie mochte auch trotz alles Irdischen so ausgesehen haben –, und zitterte immer heftiger.
    »Es ist keine Zeit zu verlieren; ich will keine Minute verlieren!« fuhr das Kind fort. »Auf! Und fort mit mir!«
    »In der Nacht?« murmelte der alte Mann.
    »Ja, in der Nacht«, versetzte das Kind. »Morgen nacht wird es zu spät sein. Der Traum wird dann wieder da sein. Nichts als die Flucht kann uns retten. Auf!«
    Der alte Mann, dem der kalte Angstschweiß auf der Stirn stand, erhob sich von seinem Bett, beugte sich vor Nell, als wäre sie ein Himmelsbote, gesandt, ihn nach ihrem Belieben zu leiten, und schickte sich an, ihr zu folgen. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn fort. Als sie an der Tür des Zimmers vorbeikamen, das er zu berauben gedacht hatte, schauderte sie und blickte zu seinem Gesichte auf. Wie weiß dieses Gesicht war, und was für Augen den ihrigen begegneten! Sie nahm ihn mit sich in ihre eigene Kammer, und ohne seine Hand freizulassen, als scheute sie sich, ihn auch nur auf einen Augenblick
zu verlieren, raffte sie ihr kleines Besitztum zusammen und hing ihr Körbchen an den Arm. Der alte Mann nahm sein Felleisen aus ihren Händen und streifte es über die Schulter, auch den Stab, den sie beiseite geschafft hatte, und dann führte sie ihn fort.
    Ihre zitternden Füße eilten rasch durch die geraden Straßen und die schmalen, gekrümmten Vorstädte. Sogar den steilen Hügel, der von dem alten, grauen Schloß gekrönt wurde, arbeiteten sie sich mit schnellem Schritt hinan, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken.
    Als sie den zerfallenen Ruinen näher kamen, ging der Mond eben in seinem milden Glanze auf, und von den ehrwürdigen, mit Efeu, Moos und wallendem Gras umsäumten Mauern blickte Nell auf die schlummernde Stadt hinab, tief im Schatten des Tales, auf den fern hinziehenden Strom mit seinem gewundenen Lichtpfad und auf die entlegenen Hügel. Bei diesem Anblick drückte sie die Hand, die sie noch immer umfaßt hielt, weniger fest, und in Tränen ausbrechend, warf sie sich an des alten Mannes Hals.

Dreiundvierzigstes Kapitel
    Sobald Nells augenblickliche Schwäche vorüber war, bot sie wieder alle Entschlossenheit auf, die ihr bisher Kraft verliehen hatte, und indem sie sich bemühte, stets den Gedanken vor Augen zu halten, daß sie vor Schmach und Verbrechen flöhen und daß die Rettung ihres Großvaters nur von ihrer Festigkeit abhinge, obgleich ihr kein freundliches Wort der Beratung, keine hilfreiche Hand Beistand boten, drängte sie ihn vorwärts, ohne auch nur ein einziges Mal wieder zurückzuschauen.
    Während er unterwürfig und beschämt vor ihr wie ange
sichts eines überirdischen Wesens zu kriechen und zu zittern schien, tauchte im Innern der Kleinen ein neues Gefühl auf, das ihre Seele hob und ihr eine Tatkraft und eine Zuversicht einhauchte, die sie nie zuvor gekannt hatte. Es bestand keine geteilte Verantwortlichkeit mehr, denn die ganze Last zweier Leben ruhte nun auf ihren Schultern, und fortan mußte sie für beide denken und handeln.
    »Ich habe ihn gerettet«, sagte sie zu sich selber; »in allen Gefahren, in allem Ungemach will ich mich daran erinnern.«
    Zu jeder andern Zeit hätte das Bewußtsein, die Freundin, die ihnen so viel Liebe erzeigt, ohne ein Wort der Rechtfertigung verlassen zu haben, der Gedanke, daß der Vorwurf des Verrats und Undanks auf sie fallen mußte, und sogar die Trennung von beiden Schwestern ihr Herz mit Kummer und Reue erfüllt. Aber nun

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