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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Ackerland und geschützten Wirtschaftshöfen war. Hier
und da blickte ein Dorf mit seinem bescheidenen Kirchturm, seinen Strohdächern und Giebeln aus den Bäumen hervor, und mehr als einmal kam eine ferne Stadt mit hohen, durch den Rauch leuchtenden Kirchtürmen und gewaltigen, über die Häusermasse emporragenden Fabrikgebäuden in Sicht. Sie konnten sie dann immer geraume Zeit vor sich liegen sehen, und daran konnten sie erkennen, wie langsam die Fahrt ging. Ihr Weg führte sie größtenteils durch Niederungen und weite Ebenen; und abgesehen von jenen fernen Orten und hin und wieder einigen Männern, die auf dem Felde arbeiteten oder auf den Brücken lungerten, unter denen sie hindurchkamen, um sie vorbeiziehen zu sehen, unterbrach nichts die Einförmigkeit ihrer trägen Wasserreise.
    Nell fühlte sich etwas entmutigt, als gegen Abend das Boot an einer Art Kai anlegte und sie aus dem Munde eines der Männer erfuhr, daß sie ihr Ziel nicht vor dem nächsten Tage erreichen könnten, weshalb er ihr raten wolle, Lebensmittel einzukaufen, wenn sie nicht damit versehen sei. Sie hatte nur noch ein paar Pence gerettet, von denen sie bereits einige für Brot ausgegeben hatte, und auch diese mußte sie ängstlich hüten, da sie nach einem ganz fremden Orte reisten, der ihnen durchaus keine Hilfsquellen bot. Ein kleines Laibchen Brot und ein Stückchen Käse waren daher alles, was sie erschwingen konnte, und mit diesem begab sie sich wieder ins Boot; nach einem halbstündigen Aufenthalt, den die Männer zu einem Trunk im Wirtshaus benutzt hatten, ging die Fahrt wieder weiter.
    Sie brachten etwas Bier und Branntwein mit ins Boot, und da sie schon vorher dem Getränke fleißig zugesprochen hatten und diese Beschäftigung nun eifrig weiterbetrieben, waren sie bald auf dem besten Wege, streitsüchtig und betrunken zu werden. Nell vermied daher die finstere, schmutzige, kleine
Kajüte, in die sie oft ihren Großvater und sie eingeladen hatten, und blieb unter freiem Himmel an der Seite des alten Mannes sitzen, während sie mit klopfendem Herzen auf das Gezänk ihrer Gastfreunde horchte und fast wünschte, wieder wohlbehalten am Ufer zu sein, und wenn sie auch die ganze Nacht hindurch hätten gehen müssen.
    Es waren wirklich rohe, laute Burschen, die wenig Umstände miteinander machten, obgleich sie sich gegen ihre Passagiere höflich genug benahmen. Als sich zum Beispiel zwischen dem Mann am Steuerruder und seinem Freund in der Kajüte ein Streit über die Frage erhob, wer zuerst die Artigkeit beobachtet hätte, Nell etwas Bier anzubieten, und als dann der Zank in ein Handgemenge ausartete, in dem sie einander zum unaussprechlichen Entsetzen des Kindes furchtbar durchbleuten, ließ doch keiner seinen Unmut an ihr aus, sondern jeder begnügte sich, seinem Zorn gegen seinen Widersacher Luft zu machen, den er als Beigabe zu den Schlägen mit einer Menge Ehrentitel bedachte, die glücklicherweise in einer für Nell unverständlichen Sprache vermittelt wurden. Die Streitfrage wurde endlich dadurch gelöst, daß der Mann in der Kajüte den andern kopfüber in diese hinunterstieß und selbst das Steuer ergriff, ohne dadurch im mindesten seine Fassung zu verlieren oder seinen Freund aus der Fassung zu bringen, der, von ziemlich kräftiger Konstitution und an solche Kleinigkeiten vollkommen gewöhnt, mit aufwärtsgekehrten Fersen, wie er hinuntergefallen war, liegenblieb und nach ein paar Minuten behaglich zu schnarchen anfing.
    Mittlerweile war es wieder Nacht geworden, und obgleich die ärmlich gekleidete Nell empfindlich fror, fiel es ihr doch nicht ein, an ihre eigene unangenehme Lage zu denken; sie strengte sich vielmehr an, einen Plan für ihren und des alten Mannes Unterhalt zu ersinnen. Derselbe Mut, der sie in der
letzten Nacht beseelt hatte, hielt sie auch jetzt aufrecht. Ihr Großvater lag friedlich schlafend an ihrer Seite, und das Verbrechen, zu dem ihn sein Wahnsinn gedrängt hatte, war unterblieben. Welch ein Trost für sie!
    Jeder einzelne Vorfall ihres kurzen und ereignisvollen Lebens trat ihr während dieser langsamen Fahrt vor die Seele! Unbedeutende Begebenheiten, an die sie bis jetzt nie gedacht oder sich erinnert hatte; Gesichter, die sie einmal gesehen und seitdem wieder vergessen hatte; Worte, die sie seinerzeit kaum beachtete; Szenen, die sich schon lange, und solche, die sich erst kürzlich ereigneten, wirbelten durcheinander und bildeten eine Kette; Orte, die in der Dunkelheit den Eindruck wohlvertrauter

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