Der Raritätenladen
verschwanden alle andern Rücksichten vor der neuen Ungewißheit und den Sorgen ihres wilden Wanderlebens; und selbst das Verzweiflungsvolle ihrer Lage hob und ermunterte sie.
Das zarte, in dem fahlen Mondlicht noch bleicher erscheinende Antlitz, auf dem trotz der gewinnenden Anmut und Lieblichkeit der Jugend bereits ernste Sorgen zu lesen waren, das leuchtende Auge, der geistvolle Kopf, die zusammengepreßten Lippen, die auf hohen Mut und feste Entschlossenheit deuteten, und die ätherische Gestalt, so fest in ihrer Haltung und doch so schwach, erzählten ihre stumme Geschichte; aber sie erzählten diese nur dem vorbeirauschenden Winde, der das Geheimnis vielleicht nur zu dem Pfühle einer Mutter trug und ihr Träume vorführte von einer Kindheit, die in ihrer Blüte dahinwelkte und den Schlaf schläft, aus dem es kein Erwachen gibt.
Die Nacht schwand schnell dahin, der Mond ging unter, die Sterne verblaßten mehr und mehr, und ein Morgen, kalt
wie sie, dämmerte langsam herauf. Dann erhob sich das edle Gestirn des Tages über den fernen Bergen, trieb die Nebel in gespenstigen Gestalten vor sich her und verscheuchte geisterhafte Schatten von der Erde, bis es wieder dunkel wurde. Sobald sie höher am Firmamente stand und ihre heiteren Strahlen Wärme entsandten, legten sich die beiden Wanderer an dem Ufer eines Flusses nieder, um zu schlafen.
Aber Nell ließ den Arm des alten Mannes nicht los, und lange nachdem er schon eingeschlummert war, bewachte sie ihn noch mit unermüdlichen Blicken. Doch auch sie ermattete endlich; der Druck ihrer Hand ließ nach, wurde erneuert und ließ wieder nach, bis sie beide Seite an Seite schliefen.
Ein lautes Stimmengewirr, das sich in Nells Träume mischte, weckte sie. Ein Mann von sehr ungeschlachtem und rauhem Äußern stand neben ihnen, und zwei seiner Gefährten schauten aus einem langen, schwerfälligen Boot herüber, das während ihres Schlummers ganz ans Ufer herangefahren war. Das Boot hatte weder Ruder noch Segel, sondern wurde von zwei Pferden gezogen, die oben auf dem Treppelweg ausruhten, während das Schlepptau, an das sie geschirrt waren, schlaff im Wasser hing.
»Holla!« rief der Mann barsch. »Was gibts da, he?«
»Wir haben hier nur geschlafen, Herr«, entgegnete Nell. »Wir sind die ganze Nacht hindurch gewandert.«
»Ein kurioses Paar Reisender für eine nächtliche Wanderung«, bemerkte der Mann, der sie zuerst angeredet hatte. »Der eine ist ein bißchen zu alt für solche Arbeit und die andere ein bißchen zu jung. Wo wollt ihr hin?«
Nell stotterte und deutete aufs Geratewohl nach Westen, worauf der Mann fragte, ob sie eine gewisse Stadt meine, die er nannte. Nell antwortete, um weiteren Fragen auszuweichen: »Ja, dort wollen wir hin.«
»Und woher kommt ihr?« lautete die nächste Frage.
Da diese Frage leichter zu beantworten war, so nannte Nell den Namen des Dorfes, in dem ihr Freund, der Schulmeister, wohnte, weil sie meinte, dieses würde den Männern wahrscheinlich unbekannt sein und daher keine weiteren Fragen veranlassen.
»Ich glaubte, es hätte euch jemand beraubt und mißhandelt«, sagte der Mann, »das ist alles. Guten Tag!«
Seinen Gruß erwidernd und froh darüber, daß er gegangen war, sah ihm Nell nach, als er eins der Pferde bestieg, und das Boot weiterfuhr. Es war noch nicht weit gekommen, als es wieder stillstand, und sie bemerkte, daß die Männer ihr winkten.
»Habt ihr mich gerufen?« fragte Nell, indem sie zu ihnen lief.
»Wenn ihr wollt, könnt ihr mit uns kommen«, versetzte einer der Männer in dem Boote, »wir fahren auch dorthin.«
Nell zögerte einen Augenblick. Da sie aber, wie schon einigemal früher, mit Zittern daran dachte, die Männer, die sie bei ihrem Großvater gesehen hatte, könnten sie in ihrer Beutegier verfolgen, den Großvater neuerdings beeinflussen und so ihre eigne Macht über ihn vereiteln, entschloß sie sich, das Anerbieten anzunehmen, da ihre Spuren von hier ab nicht weiterführen würden, wenn sie mit den Männern gingen. Denn mit dem Eintritt ins Boot mußten jene notwendig ihre Spur verlieren. Die Männer fuhren ans Ufer, und ehe sie noch Zeit zu weiterer Überlegung hatte, befand sie sich mit ihrem Großvater an Bord und glitt langsam den Strom hinab.
Die Sonne bestrahlte lieblich den glänzenden Wasserspiegel, der zuweilen von Bäumen beschattet wurde, dann aber auch wieder eine weite Aussicht über die Gegend bot, die von sprudelnden Bächen durchzogen und reich an waldigen Hügeln,
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