Der Raritätenladen
Plätze machten, bei näherer Betrachtung sich aber als ganz unbekannt herausstellten und auch nicht die geringste Ähnlichkeit besaßen; manchmal hatte sie merkwürdig verworrene Vorstellungen von der Ursache, die sie hierhergeführt, dem Ort, zu dem sie wanderten, den Leuten, unter denen sie sich befanden; Phantasiebilder, die ihr so deutlich Fragen und Bemerkungen ins Ohr raunten, daß sie zusammenfuhr, sich umwandte und fast darauf zu antworten versuchte, kurz alle die Einbildungen und Widersprüche, welche die gewöhnlichen Folgen des Wachens, der Aufregung und eines rastlosen Ortswechsels sind, bedrängten das Kind.
Während Nell so mit ihren Gedanken beschäftigt war, trafen ihre Blicke zufällig das Gesicht des Mannes auf dem Verdeck, bei dem die rohe Stimmung der Trunkenheit nun der sentimentalen Platz gemacht hatte; und nachdem er eine kurze Pfeife, die aus Rücksicht für ihr zartes Leben mit Zwirn umwickelt war, aus dem Munde genommen hatte, bat er sie, ihm ein Lied zu singen.
»Sie haben eine sehr schöne Stimme, ein sehr sanftes Auge und ein sehr gutes Gedächtnis«, begann dieser Ehrenmann.
»Was Stimme und Auge anbelangt, da bin ich selbst Zeuge. Und hinsichtlich des Gedächtnisses habe ich einmal so meine Meinung. Ich irre mich in solchen Dingen nie. Lassen Sie mich doch geschwind ein Lied hören!«
»Ich glaube nicht, daß ich eins kann«, entgegnete Nell.
»Sie können siebenundvierzig Lieder«, sagte der Mann mit einem Ernst, der keine Widerrede zuließ. »Sie können siebenundvierzig Lieder; lassen Sie mich eins davon hören, das schönste! Nur gleich anfangen.«
Da die arme Nell nicht wußte, wie weit es führen könnte, wenn sie ihren Freund aufbrächte, und schon bei dem Gedanken, ihr Zögern könnte ihn reizen, zitterte, sang sie ein kleines Liedchen, das sie in glücklicheren Tagen gelernt hatte und das so lieblich in seinen Ohren klang, daß er sie am Schlusse in der gleichen gebieterischen Weise um ein anderes ersuchte; und er war so gefällig, einen Chor dazu zu brüllen, gerade in keiner besondern Tonart oder mit Worten, aber mit so erstaunlicher Kraft, daß alle andern Mängel ausgeglichen wurden. Der Lärm dieses Liederkonzerts weckte den andern Mann, der sich auf das Deck heraufschleppte, seinem früheren Gegner die Hand schüttelte und hoch und teuer schwur, Singen sei sein Stolz, seine Freude, sein Hauptvergnügen, und er wünsche sich gar keine bessere Unterhaltung. Nell sah sich daher genötigt, einer dritten Aufforderung, die noch gebieterischer klang als die beiden früheren, nachzukommen, und nun bildeten nicht nur die beiden Männer, sondern auch der Reiter auf dem Treppelweg den Chor. Dieser war durch seine Lage verhindert, an den nächtlichen Belustigungen seiner Freunde innigeren Anteil zu nehmen, und brüllte daher, daß die Lüfte zitterten, als er seine Gefährten brüllen hörte. Auf diese Weise, mit wenig Unterbrechungen und dieselben Lieder immer wieder singend, erhielt das müde und erschöpfte Kind alle drei die ganze Nacht über
in guter Laune. Und so mancher Landmann, der aus dem tiefsten Schlaf gerüttelt wurde durch den mißtönigen Chor, der, auf Wasserflügeln getragen, in sein Ohr gellte, steckte den Kopf unter die Decke und zitterte vor Angst am ganzen Leibe.
Endlich graute der Morgen, und mit dem Auftauchen des Tages begann es in schweren Strömen zu regnen. Da Nell die abscheulichen Dünste der Kajüte nicht ertragen konnte, bedeckten sie sie zum Dank für ihre Bemühungen mit einigen Stücken Segeltuch und geteerter Leinwand, die genügten, um sie so ziemlich trocken zu erhalten und auch ihren Großvater zu schützen. Je weiter der Tag vorrückte, desto heftiger wurde der Regen. Am Mittag goß es ärger und hoffnungsloser als je, und nichts deutete darauf hin, daß es bald nachlassen würde.
Sie näherten sich immer mehr und mehr ihrem Ziele. Das Wasser war dicker und schmutziger geworden; andere Barken, die von der Stadt herkamen, schwammen häufig an ihnen vorbei; die mit Kohlenasche bestreuten Wege und die roten, aus Ziegeln gebauten Häuser deuteten auf die Nähe einer großen Fabrikstadt, während hin und wieder Straßen, Häuser und Rauchwolken aus entfernten Hochöfen verkündeten, daß sie sich bereits in der Vorstadt befänden. Nun häuften sich die Dächer; riesige Gebäude zitterten unter den stampfenden Maschinen und hallten von deren dumpfem Getöse wider; die langen Kamine spien einen schwarzen Rauch aus, der in einer dichten,
Weitere Kostenlose Bücher