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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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häßlichen Wolke über den Hausgiebeln schwebte und das Licht verdunkelte; die Eisenhämmer regten dröhnend ihre Arme, der geschäftige Lärm auf den Straßen steigerte sich allmählich, bis sich in dem allgemeinen Gewirr keine besondern Töne mehr unterscheiden ließen, kurz, alles bekundete das Ende ihrer Reise.
    Das Boot trieb in die Werft, zu der es gehörte. Die Männer waren sogleich beschäftigt. Nell und ihr Großvater warteten
lange vergeblich, um ihnen zu danken oder zu fragen, wohin sie gehen sollten; dann kamen sie durch eine schmutzige Gase in eine gedrängt volle Straße und blieben dort inmitten des Lärmes und Tumults im strömenden Regen stehen, so fremd, so betroffen und verwirrt, als hätten sie vor tausend Jahren gelebt und wären durch ein Wunder vom Tode erweckt und an diesen Ort gebracht worden.

Vierundvierzigstes Kapitel
    Die Menschenmassen, die nie aufzuhören, nie zu ermüden schienen, drängten sich ohne Unterlaß in zwei entgegengesetzten Strömungen an ihnen vorüber, einzig auf ihre Angelegenheiten bedacht, ohne sich bei ihren Unternehmungen durch das Geräusch der mit klirrenden Eisenwaren beladenen Wagen und Karren, die auf dem nassen, schlüpfrigen Pflaster ausgleitenden Pferde, den gegen die Fenster und Regenschirme schlagenden Regen, die Ellenbogenstöße ungeduldiger Passanten oder überhaupt den tumultuarischen Lärm der Straße in dieser Hochflut der Rührigkeit stören zu lassen, während unsere beiden armen Wanderer betäubt und verwirrt mit trauernden Blicken auf das Treiben der Menschen schauten, an dem sie keinen Anteil hatten. Sie fühlten inmitten dieses Gewühls eine Einsamkeit, die nur mit dem Durst eines schiffbrüchigen Seemanns verglichen werden kann, der, von den Wogen des mächtigen Ozeans hin und her gestoßen, keinen Tropfen hat, um seine lechzende Zunge zu kühlen, während seine glühenden Augen vom Anstarren des ihn rings umgebenden Wassers fast geblendet sind.
    Sie suchten unter einem niedrigen Torbogen Schutz gegen den Regen und achteten auf die Gesichter der Vorübergehen
den, ob ihnen nicht aus einem von ihnen ein Strahl der Ermutigung oder Hoffnung entgegenleuchtete. Einige runzelten die Stirn, andere lächelten, und wieder andere murmelten vor sich hin; einige gestikulierten leicht mit den Händen, als vergegenwärtigten sie sich das Gespräch, an dem sie bald teilnehmen würden, andere trugen die verschmitzten Blicke des Schacher- und Ränkegeistes zur Schau; die einen waren gespannt und begierig, die andern langsam und träge; in diesem Gesicht konnte man Gewinn, in jenem Verlust lesen. Wenn man ruhig hier stand und die Mienen der rasch Vorbeieilenden betrachtete, so war es fast, als würde man von ihnen ins Vertrauen gezogen. An fleißigen Stätten, wo jeder seine eigenen Zwecke verfolgt und das gleiche von jedem andern voraussetzt, ist jedem sein Charakter und sein Streben mit deutlichen Buchstaben auf die Stirn geschrieben; nur auf öffentlichen Spaziergängen und an Belustigungsorten finden sich Leute, die sehen und gesehen werden wollen, und hier wiederholt sich der gleiche Ausdruck mit wenigen Varianten zu hundert Malen. Die Werktagsgesichter kommen der Wahrheit näher und lassen sie deutlicher ans Licht treten.
    In jenem Zustand völliger Geistesabwesenheit, den eine derartige Einsamkeit stets zu erwecken pflegt, fuhr Nell fort, mit einer neugierigen Verwunderung, die sie fast ihre eigene Lage vergessen ließ, auf das vorbeitreibende Gedränge zu achten. Aber Kälte, Nässe, Hunger, das Bedürfnis der Ruhe und der Mangel eines Plätzchens, auf das sie den schmerzenden Kopf hätte betten können, führten ihre Gedanken bald wieder auf den Punkt zurück, von dem sie abgeschweift waren. Niemand war da, der ihrer zu achten schien oder den sie anzusprechen wagte. Nach einer Weile verließen sie den Torbogen, unter dem sie Schutz gegen das Wetter gefunden hatten, und mischten sich in das Gewühl.
    Der Abend kam heran. Die Menschenmenge verminderte sich; aber noch immer gingen sie auf und nieder, mit dem gleichen Gefühle des Verlassenseins in der Brust und ebensowenig berücksichtigt von ihrer Umgebung. Die Lichter in den Straßen und Läden ließen sie ihre Verlassenheit nur noch mehr fühlen; denn mit deren Aufleuchten kam es ihnen vor, als ob auch Nacht und Dunkelheit schneller heranrückten. Vor Kälte und Nässe zitternd, mit erschöpftem Körper und todkrankem Herzen mußte Nell all ihre Festigkeit und Entschlossenheit aufbieten, um sich nur

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