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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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weiterzuschleppen.
    Warum waren sie auch in diese geräuschvolle Stadt gekommen, da es doch so friedliche Orte auf dem Lande gab, an denen sie vielleicht weniger qualvoll gehungert und gedürstet hätten als in diesem schmutzigen Treiben? Hier waren sie nur ein Sandkorn in einer ganzen Wüste von Elend, deren Anblick schon genügte, ihre Hoffnungslosigkeit und ihre Leiden zu vermehren.
    Nell hatte nicht nur mit den sich häufenden Beschwerlichkeiten ihrer hilflosen Lage zu kämpfen, sondern auch die Vorwürfe ihres Großvaters zu ertragen, der zu murren anfing, daß er aus seinem letzten Heim hinweggeführt worden sei, und wieder dahin zurückzukehren verlangte. Ohne einen Penny in ihrem Vermögen und jeder Aussicht auf Hilfe oder Erleichterung bar, gingen sie durch die verödeten Straßen zur Werft zurück in der Hoffnung, das Boot wieder aufzufinden, in dem sie gekommen waren, und die Erlaubnis zu erhalten, an Bord ihr Nachtlager aufschlagen zu dürfen. Aber auch diese Aussicht wurde ihnen genommen, denn das Tor war geschlossen, und einige wilde Hunde, die sie mit Bellen empfingen, nötigten sie zur Umkehr.
    »Wir müssen diese Nacht unter freiem Himmel schlafen, lieber Großvater«, sagte das Kind mit schwacher Stimme, als
sie sich wieder umwandten, nachdem die letzte Hoffnung gescheitert war, »und morgen wollen wir uns bis zu einem friedlicheren Orte auf dem Lande weiterbetteln; vielleicht gelingts uns, irgendwo eine wenn auch noch so geringe Beschäftigung zu finden, die uns das tägliche Brot verschafft.«
    »Warum hast du mich hierhergebracht?« entgegnete der alte Mann trotzig. »Ich kann diese engen, unabsehbaren Straßen nicht ertragen. Wir kamen von einem ruhigen Orte; warum zwangst du mich, ihn zu verlassen?«
    »Weil der Traum nicht wiederkommen durfte, von dem ich Ihnen erzählte«, versetzte das Kind mit einer Festigkeit, die sich jedoch schnell in Tränen auflöste, »und wir müssen unter armen Leuten leben, sonst kommt er immer wieder. Ich weiß ja, lieber Großvater, daß Sie alt und schwach sind, aber schauen Sie mich an! Ich will nie klagen, wenn Sie standhaft sind, obgleich ich mich wirklich nicht wohl fühle.«
    »Ach du armes, heimatloses, umherirrendes, verwaistes Kind!« rief der alte Mann, indem er die Hände zusammenschlug und ihr vergrämtes Gesicht, ihr vom Umherwandern arg mitgenommenes Kleid und ihre wunden, geschwollenen Füße betrachtete, als sähe er dies alles zum erstenmal. »Hat all meine qualvolle Besorgnis sie schließlich so weit gebracht? Was war ich einst für ein glücklicher Mann, und habe ich alles, was ich besaß, darum verlieren müssen?«
    »Wenn wir jetzt auf dem Lande wären«, sagte das Kind mit erkünstelter Heiterkeit, als sie weitergingen, um ein Obdach zu suchen, »dann würden wir irgendeinen guten alten Baum finden, der seine grünen Arme über uns ausstreckte, als liebte er uns, und über uns nickte und rauschte, als wollte er uns einschläfern, damit wir von ihm träumen, während er wachte. So Gott will, werden wir bald dort sein, morgen oder spätestens übermorgen, und inzwischen wollen wir denken, lieber Groß
vater, daß es für uns doch gut war, hierherzukommen. In dem Gedränge und Gewühle dieses Ortes verschwinden wir ganz, und wenn uns schlimme Leute verfolgen sollten, würden sie unsere Spuren sicherlich umsonst suchen. Und da ist auch ein tiefer, alter Torweg, zwar sehr dunkel, aber trocken und obendrein warm, weil der Wind nicht hereinblasen kann. – Was ist dies?«
    Die letzten Worte halb entsetzt ausstoßend, bebte sie vor einer schwarzen Gestalt zurück, die plötzlich aus dem dunkeln Winkel hervortrat, in dem sie Zuflucht suchen wollten, und stehenblieb, um sie zu betrachten.
    »Sprich noch einmal!« sagte die Gestalt; »kenne ich die Stimme?«
    »Nein«, versetzte das Kind schüchtern, »wir sind fremd und haben kein Geld, um eine Nachtherberge zu bezahlen; deshalb wollten wir hier schlafen.«
    In nicht allzu großer Entfernung schimmerte eine matte Lampe, die einzige an diesem Ort, der eine Art viereckigen Hofes war; aber sie leuchtete doch genügend hell, um dessen Ärmlichkeit zu zeigen. Die Gestalt winkte ihnen, sich dem Licht zu nähern, indem sie zugleich in dessen Strahlenkreis trat, als wolle sie zeigen, daß sie nicht die Absicht habe, sich vor ihnen zu verbergen oder ihnen einen Vorteil abzugewinnen.
    Es war ein Mann in ärmlicher, von Rauch geschwärzter Kleidung, die ihn vielleicht durch den Kontrast, den sie zu der

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