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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Greis immer weiter von Schuld und Schande fortzuführen; der Arbeiter, um ein neues Interesse dem Platz zu widmen, auf dem seine Gäste geschlafen hatten, und in dem Feuer seines Ofens neue Geschichten zu lesen.

Fünfundvierzigstes Kapitel
    Auf ihrer ganzen Reise hatten sie nie so glühend nach der freien, reinen Luft und dem Lande verlangt und geschmachtet als jetzt. Nein, nicht einmal an jenem denkwürdigen Morgen, als sie, ihr altes Heim verlassend, sich der Gnade oder Ungnade einer unbekannten Welt auslieferten und all die stummen und seelenlosen Dinge, die sie gekannt und geliebt hatten, hinter sich ließen; nicht einmal damals hatten sie sich so nach der frischen Einsamkeit der Wälder, Berge und Felder gesehnt als jetzt, da der Lärm, der Schmutz und der Dunst dieser großen Fabrikstadt, die von hungrigem Elend und zehrender Not starrte, sie von allen Seiten beengten, die leiseste Hoffnung auszuschließen und ein Entkommen unmöglich zu machen schienen.
    »Zweimal vierundzwanzig Stunden!« dachte das Kind. »Er sagte, zweimal vierundzwanzig Stunden müßten wir in einer
Umgebung wie dieser zubringen. Ach, wenn wir es erleben, wieder einmal aufs Land zu kommen, wenn wir diesen schrecklichen Ort hinter uns haben werden, sei es auch nur, um uns zum Sterben niederlegen zu können, mit wie frohem Herzen wollte ich Gott für eine solche Gnade danken!«
    Mit solchen Gedanken und mit der unbestimmten Absicht, an Strömen und Bergen vorüber zu einem fernen Ort zu wandern, in dem nur arme und einfache Leute lebten und wo sie sich ihren Unterhalt durch geringfügige Handreichungen in den Pachthöfen erwerben könnten, ohne die Schrecken, vor denen sie flohen, befürchten zu müssen, raffte Nell all ihre Kraft zusammen zu dieser letzten Reise und verfolgte kühn ihre Aufgabe, obgleich ihr keine andern Hilfsmittel zu Gebote standen als das Geschenk des armen Mannes und keine andere Ermutigung als die aus ihrem eignen Herzen und aus der Überzeugung floß, daß sie gut und richtig handle.
    »Wir werden heute nur langsam vorwärts kommen, lieber Großvater«, sagte sie, als sie sich mit Mühe durch die Straßen schleppte. »Meine Füße sind wund, und alle meine Glieder schmerzen mich, weil ich gestern so naß wurde. Ich bemerkte auch, daß er uns ansah und sich wohl darüber Gedanken machte, als er sagte, wie lange unsere Reise dauern könnte.«
    »Er meinte, es sei ein trauriger Weg«, jammerte der Großvater. »Gibt es keinen andern? Willst du mich denn gerade diesen führen?«
    »Dort hinaus«, versetzte das Kind mit Festigkeit, »liegen Orte, in denen wir in Frieden leben können und nicht zum Bösen verleitet werden. Wir wollen den Weg gehen, der uns ein solches Ziel verspricht; und wir würden auch nicht von ihm abweichen, wäre er auch hundertmal schlimmer, als wir in unserer Angst erwarten. Nicht wahr, lieber Großvater, wir würden es nicht tun?«
    »Nein«, entgegnete der alte Mann mit bebender Stimme und zitternden Gliedern. »Nein. Laß uns weitergehen! Ich bin bereit, ich bin vollkommen bereit, Nell.«
    Die Kleine schleppte sich mit mehr Schwierigkeit vorwärts, als sie ihren Gefährten merken lassen wollte; denn die Gliederschmerzen, die sie folterten, waren von ganz besonderer Heftigkeit und wuchsen mit jeder Bewegung. Aber sie entrangen ihr keinen Klagelaut und trübten nicht einmal ihren Blick; und obgleich die beiden Wanderer nur sehr langsam vorwärts kamen, so ging es doch weiter. Als sie sich im Laufe der Zeit immer mehr dem Ende der Stadt näherten, fühlten sie, daß sie nun ihren Weg gefunden hatten.
    Eine lange Vorstadt aus roten Ziegelhäusern – einige hatten kleine Gärtchen, in denen Kohlenstaub und Fabrikrauch die zusammenschrumpfenden Blätter und die dürftigen Schlingpflanzen schwärzten und in denen die mühsam um ihr Leben kämpfende Vegetation unter dem heißen Atem der Öfen und Schlote dahinsiechte und erstarb, so daß der Ort durch diesen Anblick nur noch vergifteter und ungesunder aussah als die Stadt selbst –, eine lange, flache, unzusammenhängende Vorstadt lag endlich hinter ihnen, und sie kamen allmählich in eine unfreundliche Gegend, in der auch nicht ein Grashalm wuchs, keine sprossende Knospe auf den Frühling deutete, in der nichts Grünes leben konnte außer auf der Oberfläche der faulenden Sümpfe, die, langsam austrocknend, hin und wieder neben der schwarzen Landstraße lagen.
    Je weiter sie in den Schatten dieser traurigen Gegend kamen, desto mehr bemächtigte sich

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