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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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vergessen, die Nells Sinne gefangennahm. Mit sanften Gefühlen legte sie sich nieder und mit einem ruhigen Lächeln auf ihrem Antlitz schlummerte sie ein. Es war nicht wie Schlaf, und doch mußte es Schlaf gewesen sein; denn woher sonst die ganze Nacht über jene lieblichen Träume von dem kleinen Schüler?
    Der Morgen kam. Nell fühlte sich viel schwächer; es schwamm ihr vor den Augen, und auch ihr Gehörsinn war nicht mehr so scharf wie gestern. Und doch beklagte sie sich nicht, würde sich vielleicht auch dann nicht einmal beklagt haben, wenn die Veranlassung zum Schweigen ihr nicht zur Seite gewesen wäre. Die Hoffnung schwand, sich je wieder aus diesen verlassenen Orten herausfinden zu können, und eine dunkle Ahnung bemächtigte sich ihrer, daß sie sehr krank, vielleicht todkrank sei; aber sie fühlte weder Furcht noch Beklommenheit.
    Ein Widerwille gegen Speise, dessen sie sich nicht eher bewußt wurde, als bis sie ihren letzten Penny für Brot ausgegeben hatte, verhinderte sie, sogar an diesem kärglichen Mahl teilzunehmen. Ihr Großvater aß mit Gier, und sie freute sich darüber.
    Ihr Weg führte sie über ähnliche Schauplätze wie gestern, ohne daß eine Abwechslung oder eine Besserung eingetreten wäre. Da war dieselbe dicke Luft, die man kaum atmen konnte, derselbe versengte Boden, dieselbe hoffnungslose Aussicht, die gleiche Not und Armseligkeit. Die Gegenstände erschie
nen ihr trüber, der Lärm geringer, der Weg rauher und unebener; denn sie stolperte hin und wieder und raffte sich mit Mühe auf, um nicht hinzufallen. Armes Kind! Die Ursache lag in ihren wankenden Füßen.
    Gegen Mittag beklagte sich ihr Großvater bitterlich über Hunger. Sie näherte sich einer jener armseligen Hütten am Wege und klopfte an die Tür.
    »Was willst du hier?« fragte ein hagerer, elend aussehender Mann, der die Tür öffnete.
    »Erbarmen! Einen Bissen Brot.«
    »Siehst du dies?« entgegnete der Mann mit heiserer Stimme, indem er auf eine Art Bündel zeigte, das auf dem Boden lag. »Das ist ein totes Kind. Ich und fünfhundert andere Männer sind vor drei Monaten beschäftigungslos geworden. Dies ist mein drittes totes Kind und mein letztes. Glaubst du, ich könnte Erbarmen gewähren, oder ich hätte einen Bissen Brot übrig?«
    Nell bebte zurück, und der Mann schloß die Tür. Durch die Not gedrängt, klopfte sie an einer andern in der Nachbarschaft, die dem leichten Druck ihrer Hand nachgab und aufflog.
    Die Hütte schien von zwei armen Familien bewohnt zu sein, denn zwei Weiber, von denen jede von ihren Kindern umgeben war, hatten sich in die Stube geteilt. In der Mitte stand ein ernster, schwarz gekleideter Herr, der augenscheinlich eben erst eingetreten war und einen Knaben an der Hand hatte.
    »Hier, Frau«, sagte er, »ist Euer taubstummer Sohn, und Ihr mögt mir dafür danken, daß ich ihn Euch zurückbringe. Er wurde heute morgen zu mir geführt; man hat ihn des Diebstahls beschuldigt, und ich versichere Euch, daß es jedem andern Knaben übel ergangen wäre. Ich hatte jedoch Mitleid mit seinen Gebrechen, und da ich dachte, er habe vielleicht nichts
Besseres gelernt, gelang es mir, ihn Euch wieder zuzuführen. Habt in Zukunft mehr acht auf ihn!«
    »Und wollt Ihr mir nicht auch meinen Sohn zurückgeben?« rief die andere Frau, die hastig aufstand und sich vor den Fremden hinstellte. »Wollt Ihr mir nicht auch meinen Sohn wieder zurückgeben, Sir, der wegen desselben Vergehens deportiert wurde?«
    »War er auch taubstumm, Frau?« fragte der Herr streng.
    »War ers etwa nicht, Sir?«
    »Das wißt Ihr selbst ganz genau.«
    »Er war es!« schrie das Weib. »Er war taub, stumm und blind gegen alles Gute und Rechte von seiner Wiege an. Ihr Knabe sollte nichts Besseres gelernt haben? Wo lernte es der meinige? Wo hätte der meinige etwas Besseres lernen können? Wer hätte es ihn lehren oder wo hätte er es lernen sollen?«
    »Ruhig, Frau«, versetzte der Herr, »Euer Sohn war im Besitz aller seiner Sinne.«
    »Ja«, rief die Mutter, »aber ebendeshalb konnte er um so leichter auf Abwege geführt werden! Wenn Ihr diesen Jungen schont, weil er vielleicht Recht von Unrecht nicht zu unterscheiden weiß, warum tatet Ihr nicht dasselbe bei dem meinigen, den man nie den Unterschied kennen lehrte? Ihr Herren habt ebensogut ein Recht, ihren Knaben zu strafen, dem Gott Sprache und Gehör versagte, als meinen, den Ihr selbst in der Unwissenheit erhalten habt. Wie viele Mädchen und Knaben, ach, und auch Männer und

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